Zu Besuch auf dem „Zauberberg“
Das Berghotel Schatzalp oberhalb von Davos in den Schweizer Bergen war einst ein Luxussanatorium. Nur war es auch das Sanatorium aus Thomas Manns Meisterwerk „Der Zauberberg“? Eine Spurensuche.
Eine Standseilbahn führt von Davos, Europas höchst gelegener Stadt in den Schweizer Alpen, mehr als 300 Meter hinauf auf die Schatzalp. Direkt an der Bergstation in 1861 Metern Höhe befindet sich ein langgestrecktes Gebäude mit flachem Dach und extragroßen, nach Süden ausgerichteten Holzbalkonen. Als der Jugendstilbau Jugendstil (m., nur Singular) eine kunstgeschichtliche Epoche in Europa (Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts) im Jahr 1900 eröffnet wurde, galt er als die fortschrittlichste Heilstätte der Region, erzählt Lokalhistoriker Lokalhistoriker, -/Lokalhistorikerin, -nen jemand, der ehrenamtlich die Geschichte der heimatlichen Umgebung erforscht Klaus Bergamin:
„Ein Luxussanatorium der Extraklasse für die damalige Gesellschaft. Da waren die ganz Reichen.“
Die Patienten kamen in das Sanatorium, eine krankenhausähnliche Einrichtung, um sich von der Tuberkulose heilen zu lassen, einer durch Bakterien verursachten Krankheit, die meist die Lunge betraf. Den Aufenthalt konnten sich jedoch nur diejenigen leisten, die betucht betucht umgangssprachlich für: sehr reich waren. Deshalb war es laut Klaus Bergamin ein Sanatorium der Extraklasse, eines, das mehr bot als normale Heilstätten. Die Tuberkulosekranken mussten täglich mehrere Stunden auf den Balkonen in der Sonne liegen und die Bergluft einatmen. Sie galt als Heilmittel, denn man hatte etwas festgestellt, so Klaus Bergamin:
„Dass wir erstens mal keine Milben hier oben haben, dass wir praktisch keine Pollen hier haben. Wir haben praktisch keine Laubbäume, und die Gräser haben ja auch Pollen, aber drum können wir nicht sagen, es hätte keine, es hat wenig Pollen. Und dann vor allem das austrocknende Nord-Süd-Klima. Das waren vor allem die Faktoren, die eben heilend wirkten.“
Zwei Faktoren sorgten für eine zu erwartende Heilung: Das Klima und die Bergluft, die weitgehend frei von allergieauslösenden Substanzen wie Milben, winzige, spinnenähnliche Tiere, oder Blütenstaub, Pollen, ist. Als aber Ende der 1940er-Jahre Antibiotika Antibiotikum, Antibiotika (n.) ein Medikament gegen Krankheiten, die durch Bakterien verursacht werden gegen Tuberkulose auf den Markt kamen, verlor die Davoser Berglufttherapie an Bedeutung. 1953 wurde aus dem Sanatorium das Schatzalp-Hotel. Trotz Umbau behielt das Gebäude seinen ursprünglichen Charakter. So sieht zum Beispiel der Speisesaal noch immer aus wie im 19. Jahrhundert. Auch manches Möbelstück ist geblieben, sagt Hoteldirektor Mark Lindner:
„Die alten Tische sind noch Originale. Das ist wunderbar auch zu erkennen an den gusseisernen Füßen.“
An die Zeit als Sanatorium erinnern nicht nur die Originaltische mit ihren Füßen aus Gusseisen, einem harten, spröden spröde hier: so, dass ein Material hart und unelastisch ist Metall, sondern auch die Hotelbar mit ihren bunt beleuchteten Milchglas Milchglas (n., nur Singular) hier: Glas, das weißlich und undurchsichtig ist scheiben an der Wand. In Anlehnung an die frühere Nutzung des Raumes hat man die Bar ‚X-Ray-Lounge Lounge, -s (f., aus dem Englischen) ein Aufenthaltsraum (z. B. in einem Hotel) ‘ genannt, also ‚Röntgen-Lounge‘. Mark Lindner beschreibt, wie der Raum damals aussah:
„Man hat also hier ein Röntgengerät drin gehabt, und die Wände, die es hier noch zu sehen gibt, die sind beleuchtbar – vielleicht damals in ’ner anderen Farbe. Da hat man dann die Röntgenbilder angeschaut.“
Ein Original-Fahrstuhl mit schweren Gittertüren bringt die Gäste auf die Etagen mit den Hotelzimmern. Auch hier, in den Gästezimmern und Gängen erinnert viel an die Zeit des Hauses als Sanatorium, so Mark Lindner:
„Ja, das ist natürlich in der Baustruktur in vielen Dingen zu erkennen. Ein wunderbares Beispiel sind die breiten Gänge. Die hat man natürlich gebraucht, um einfach auch die Betten über die Gänge rollen zu können. Die breiten Türen sind ein weiteres Beispiel. Das sind Dinge, die sind natürlich aus diesem Grunde entstanden und die sind auch heute noch sichtbar.“
Ein solches Haus muss Thomas Mann vor Augen gehabt haben, als er in seinem Meisterwerk „Der Zauberberg“ beschrieben hat, wie seine Romanfigur Hans Castorp die abgeschlossene Welt eines Hochgebirgssanatoriums erlebt hat. Dieser Hans Castorp, der ins Sanatorium Berghof reist, um seinen Vetter zu besuchen, dann aber doch sieben Jahre bleibt – aus unterschiedlichen Gründen. Einer davon: die attraktive, kapriziöse kapriziös – (meist bei Frauen) sehr eigenwillig; launenhaft 28-jährige Russin Madame Chauchat, die gern ihren ‚Auftritt‘ hat und immer zu spät zum Abendessen kommt. Aber ist das heutige Hotel Schatzalp tatsächlich die Zauberberg-Klinik? Mark Lindner sagt: ‚Ja‘ – und er sagt auch, warum:
„Das erste ist, die Schatzalp ist das einzige Haus in Davos, was wirklich namentlich erwähnt ist im ‚Zauberberg‘. Das zweite ist: Es gibt Details aus dem Haus, die auch im ‚Zauberberg‘ auftauchen. Zum Beispiel ist das die Tür des Speisesaals. Es gibt da die Dame, die abends immer zu spät zum Essen kommt und die Tür hinter sich lautstark zufallen lässt – und das ist die Tür, vor der wir stehen.“
Etwas anders fällt die Antwort des Lokalhistorikers Klaus Bergamin aus. Seiner Meinung nach hat Thomas Mann im „Zauberberg“ eine Phantasiewelt aufgebaut, die sich stark an verschiedenen Originalplätzen von Davos orientiert:
„Ich glaube, es war vor allem das Waldsanatorium. Und er hat aber nie gesagt, es sei das Waldsanatorium oder eben die Schatzalp, wo er jeden Tag hinaufging. Er hat da gesagt, es sei das Sanatorium Berghof, denn er hat immer Angst gehabt vor den Juristen, dass man ihn da belangen könnte, wenn er etwas Falsches sagen würde, und deswegen hat er gesagt: Sanatorium Berghof. Fertig.“
Der Lokalhistoriker meint, Thomas Mann habe sich namentlich gar nicht festlegen wollen, weil er befürchtet hat, juristisch zur Verantwortung gezogen und gegebenenfalls sogar verklagt zu werden. Er wollte rechtlich nicht belangt werden. Klaus Bergamin empfiehlt deshalb Thomas-Mann-Freunden, bei einem Davos-Besuch zu mehreren Orten zu pilgern zu einem Ort pilgern hier umgangssprachlich für: einen besonderen Ort aufsuchen, der für etwas sehr bekannt ist – sowohl zum Waldhotel – dem ehemaligen Waldsanatorium –, als auch auf die Schatzalp. Denn nur dort könne man heute noch erleben, wie die Atmosphäre zur Zeit der legendären Davoser Heilanstalten war.
Zu Besuch auf dem „Zauberberg“
Jugendstil (m., nur Singular) — eine kunstgeschichtliche Epoche in Europa (Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts)
Lokalhistoriker, -/Lokalhistorikerin, -nen — jemand, der ehrenamtlich die Geschichte der heimatlichen Umgebung erforscht
betucht — umgangssprachlich für: sehr reich
Antibiotikum, Antibiotika (n.) — ein Medikament gegen Krankheiten, die durch Bakterien verursacht werden
spröde — hier: so, dass ein Material hart und unelastisch ist
Milchglas (n., nur Singular) — hier: Glas, das weißlich und undurchsichtig ist
Lounge, -s (f., aus dem Englischen) — ein Aufenthaltsraum (z. B. in einem Hotel)
kapriziös – (meist bei Frauen) — sehr eigenwillig; launenhaft
zu einem Ort pilgern — hier umgangssprachlich für: einen besonderen Ort aufsuchen, der für etwas sehr bekannt ist