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Die Zersetzung der unabhängigen Presse

3. Mai 2022

Seit Putins Amtsantritt 2000 wurden laut Reporter ohne Grenzen 37 Journalisten und Journalistinnen in Russland ermordet. Zum Tag der Pressefreiheit blicken wir auf die Entwicklung der Medienlandschaft seit den 1990ern.

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Übertragung von Wladimir Putin auf mehreren Bildschirmen
Regimetreue Berichterstattung rund um die Uhr im russischen FernsehenBild: Anton Novoderezhkin/TASS/dpa/picture alliance

Als am 19. August 1991 im sowjetischen Fernsehen statt der üblichen Nachrichten stundenlang Tschaikowskis "Schwanensee" lief, wussten die Bürger schnell, das etwas nicht in Ordnung ist. Reaktionäre Kräfte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der Armee und das KGB versuchten, Gorbatschow zu stürzen. Ihnen missfiel seine reformorientierte Politik der "Glasnost" (Offenheit) und "Perestrojka" (Umgestaltung) - doch der Putsch misslang.  

Heute laufen keine Ballettaufzeichnungen im russischen Staatsfernsehen - dafür fast den ganzen Tag Nachrichten und Polit-Sendungen, die die Politik des Kremls  legitimieren und in gutem Licht dastehen lassen. Der Volksmund spricht daher gern von der "Zombie-Kiste".

Doch die Rolle der Medien war nicht immer so eindeutig unterwürfig wie heute. Ein Rückblick.

Mit Gewalt versucht ein Demonstrant am 19. August 1991, den Soldaten eines Schützenpanzers, der vor dem russischen Regierungsgebäude, dem "Weissen Haus" in Moskau, Stellung bezogen hat, aus der Turmluke zu ziehen.
Die alten Kräfte versuchten den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Nach drei Tagen gaben die Putschisten aufBild: picture alliance/dpa

Die Goldenen 90er

Nach jahrzehntelanger Bevormundung durch das kommunistische Regime konnten die Medien im Zuge von Glasnost und Perestroika den politischen Wandel zunehmend als eigenständige Akteure mitgestalten. "Nach dem Ende der Sowjetunion gab es in der russischen Bevölkerung einen enormen Bedarf an unabhängiger Berichterstattung. Das sieht man zum Beispiel daran, dass innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl an neuen Printmedien entstand. Nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern im ganzen Land. Die Medienszene war sehr lebendig und hat offen über das Ende der Sowjetunion, aber auch über die kommunistische Vergangenheit berichtet", sagt Ulrike Gruska, Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen.

Doch dieses "Goldene Zeitalter" für die freie Printpresse endete recht schnell. Die Wirtschaftskrise 1993/1994 führte dazu, dass viele Zeitungen schließen mussten. Umso größer wurde die Rolle der Fernsehanstalten, die zwar nicht vom Kreml gesteuert wurden, aber dafür von mächtigen Wirtschaftsbossen. Oligarchen wie Boris Beresowski  und Vladimir Gussinski kauften sich unter anderem die führenden TV-Kanäle des Landes, darunter ORT und NTW. Mit ihren Medien-Imperien lenkten sie wesentlich die Politik im Russland der 1990er-Jahre. So verhalfen die Wirtschaftsbosse zum Beispiel bei der Präsidentschaftswahl 1996 dem demokratisch eingestellten Boris Jelzin zum Sieg gegen den Kommunisten Gennadi Sjuganow und verhinderten so, dass die alten Eliten wieder an die Macht kamen.

Ansonsten waren  Gussinskis und Beresowskis Medienkonzerne politisch nicht immer auf einer Linie: Während ersterer zunehmend gegen den Kreml schoss, unterstützte Beresowski Jelzin - und später Putin. Gussinskis Sender NTW hingegen berichtete offen über die Brutalität des Tschetschenienkrieges und gewann dadurch landesweit an Ansehen.

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Der Verfall der Medienlandschaft seit 2000

Beresowskis kremlnaher Sender ORT unterstützte Putin beim Kampf um das Präsidentenamt und verhalf ihm 2000 zum Sieg, 20 Jahre später ist Putin jedoch längst zum Totengräber der freien Presse geworden. Seit 2000 wurde der Spielraum der Journalisten massiv eingeengt. "Direkt nach seinem Amtsantritt begann er, die Medien unter staatliche Kontrolle zu bringen. Der Sender NTW wurde spektakulär zerschlagen. Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte drangen in die Redaktion ein, das wurde zum Teil live übertragen. Unter verschiedenen Vorwänden und Anklagepunkten wurde der Besitzer Gussinski Schritt für Schritt entmachtet", erklärt Gruska. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch dem einstigen Wohltäter Putins: Dass Beresowski sich zunehmend von seiner Politik distanzierte, verzieh ihm der mächtige Mann im Kreml nicht. Beresowskis Sender ORT wurde unter staatliche Kontrolle gestellt - und ist heute als "Erster Kanal" Sprachrohr des Kremls.

Ein Mann hält ein Bild von Anna Politkowskaja
Die Journalistin Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006 ermordetBild: Sergei Ilnitsky/dpa/picture alliance

Von Jahr zu Jahr verstummten mehr freie Stimmen im Land: Nach den Demonstrationen im Winter 2011/2012 gegen mutmaßliche Fälschungen bei der Parlamentswahl und nach der Krim-Annexion und dem Kriegsausbruch im Donbass 2014 verschärfte sich die Kontrolle noch mehr. Und während die staatsnahen Sender ausschließlich die offizielle Kreml-Rhetorik propagierten, wurden die kritischen Medien als "Verräter" und "Agenten" angeprangert. Am Vorabend der Olympischen Spiele in Sotschi 2014 konstatierte Reporter ohne Grenzen, "unabhängiger Journalismus" im Lande sei ein "Kampfsport". So ist es nicht verwunderlich, dass 2017 in einer Umfrage der Körber-Stiftung 76 Prozent aller befragten Russen fanden, Aufgabe der Medien sei es, die Regierung in ihrer Arbeit zu unterstützen und deren Entscheidungen mitzutragen.

Ulrike Gruska, Russland-Expertin und Referentin bei Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska, Russland-Expertin und Referentin bei Reporter ohne GrenzenBild: Charlotte Ernst/RSF

Internet als Schlupfloch?
 

Für regimekritische Stimmen blieb da lange Zeit nur das Internet, wo Medien und Blogger noch halbwegs normal agieren konnten. "Die russische Führung hat erst spät die Wichtigkeit des Internets für den gesellschaftlichen Diskurs erkannt", sagt Ulrike Gruska. "Im Vergleich zu anderen repressiven Regimen wie zum Beispiel China, wo das Internet von Anfang an als strikt kontrolliertes Netz aufgebaut wurde, ist das Netz in Russland dezentral aufgebaut. Es gibt etliche Knotenpunkte mit dem Ausland, es gibt dutzende Kommunikationsprovider, über die der Verkehr läuft."

Inzwischen hat man in Moskau die Relevanz des Internets allerdings erkannt und mit einer Reihe von Gesetzesänderungen sämtliche unabhängige Medien zum Schweigen gebracht. Derzeit können Plattformen wie Instagram und Facebook, sowie Seiten ausländischer Medienhäuser nur über sogenannte VPN-Zugänge aufgerufen werden. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor kann Plattformen jederzeit sperren, auf Computern oder Smartphones müssen russische Programmen standardmäßig vorinstalliert sein.

Demonstranten mit Plakaten und Ballons auf Moskaus Straßen
Nach der Duma-Wahl 2011 und die Ankündigung Putins, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren, fanden in Moskau und ganz Russland Massenproteste statt. Es waren die größten Demonstrationen seit dem Ende der SowjetunionBild: Russland Moskau/AFP/Getty Images

Mit Gesetzen die Demokratie abschaffen
 

Ab 2011/2012 zog die Regierung die Daumenschrauben noch mehr an. Es wurde ein Gesetz nach dem anderen erlassen, das die Arbeit der Journalisten und Journalistinnen erschwerte: Berichterstattung über protzige Villen oder hohe Gehälter von Regierungsbeamten, die nach Korruption riechen? Verboten. Aufdeckung ominöser Machenschaften? Verboten. 

Internationale Organisationen, die in Russland politisch tätig sind und Geld aus dem Ausland erhalten, müssen sich als sogenannte "ausländische Agenten" in ein staatliches Register eintragen. Bußgelder und Freiheitsstrafen sind an der Tagesordnung. 

"Es ist klar, dass sich der demokratische Diskurs ganz grundlegend geändert hat. Die regimekritischen Stimmen sind jetzt fast alle im Ausland und man kann nicht gut einschätzen, wie viel unabhängige Informationen noch nach Russland gelangen bzw. was fast noch wichtiger ist, inwiefern diese dort überhaupt aufgenommen und geglaubt werden", sagt Gruska. "Ich höre das immer wieder von Freunden und Kolleginnen: Das größte Problem besteht nicht darin, den Menschen in Russland die Information zukommen zu lassen, dass in der Ukraine Krieg herrscht und Wohnhäuser bombardiert werden. Das Problem ist eher, dass viele Menschen, selbst wenn sie das erfahren, es einfach nicht glauben, weil sie seit zwei Jahrzehnten mit den Inhalten des Staatsfernsehens überschüttet werden. Große Teile der Bevölkerung haben inzwischen die Narrative des Kreml übernommen: nämlich, dass in der Ukraine ein Naziregime herrsche, von dem die Menschen befreit werden müssten."  

Der Chefredakteur von Mediazona, Sergej Smirnow, in Gerichtssaal.
Der Chefredakteur von Mediazona, Sergej Smirnow, wurde Anfang Februar 2021 verhaftetBild: Tverskoi District Court Press/ITAR-TASS/Imago Images

2022: Der große Kahlschlag

Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate hatten die endgültige Vernichtung der letzten freien Medien in Russland zur Folge. Der Kahlschlag begann Anfang des Jahres mit einer großen Säuberungsaktion in der russischen Medienwelt, unter anderem mit der Schließung des Moskauer Büros der Deutschen Welle und dem Entzug der Akkreditierungen für die in Russland arbeitenden Korrespondentinnen und Korrespondenten des Senders.

Dann ging es Schlag auf Schlag: Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden sukzessive die letzten unabhängigen Medien mundtot gemacht. Auch diejenigen, von denen man dachte, ihre Popularität würde sie schützen.

So wurde bereits am 1. März 2022 der unabhängige Radiosender "Echo Moskwy" vom Netz genommen, auch die Homepage des 1990 gegründeten Senders wurde gesperrt. Die unverblümte und mutige Berichterstattung über die ersten Tage des Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde zum "Schwanengesang" des Senders.

Nicht besser erging es dem wesentlich jüngeren TV-Sender "Doschd" ("TV Rain"). Der 2010 ebenfalls von Journalisten gegründete, unabhängige Online-Kanal war Sprachrohr der jungen russischen Protest-Generation. "Doschd" wurde Anfang März 2022 "wegen falscher Berichterstattung über die Ereignisse in der Ukraine" geschlossen. Die meisten Redaktionsmitglieder setzten sich schleunigst ins Ausland ab, es wird versucht, am Standort Tbilisi (Georgien) die Redaktion wieder aufzubauen.

Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow fotografiert sich im Zug, kurz nachdem er mit roter Farbe attackiert wurde
Der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur von "Nowaja Gaseta" Dmitri Muratow wurde im Zug mit roter Farbe attackiertBild: Nvaya Gazeta Europe's Telegram channel/AP/dpa/picture alliance

Schließlich traf es die "Nowaja Gaseta" und deren Gründer und Nobelpreisträger Dmitri Muratow, eine Ikone der russischen und internationalen Journalistik. Die "Nowaja"-Redaktion war über Jahre hinweg eines der besten Recherche-Teams Russlands, auch deren letzte große Tat war eine radikal ehrliche Berichterstattung aus den zerstörten ukrainischen Städten.

Gibt es nun überhaupt noch unabhängige, freie Stimmen in Russland? Die gibt es schon, "aber sie können nichts veröffentlichen", räumt Ulrike Gruska ein. Ihrer Einschätzung nach befindet sich inzwischen der überwiegende Teil aller unabhängigen Journalistinnen und Journalisten, die auf überregionaler Ebene gearbeitet haben, im Ausland." Und von dort sind ihre Stimme im Mutterland kaum zu vernehmen – dafür sorgen Machtstrukturen mit Repressalien und Internet-Sperren. "Die Situation der Medien im heutigen Russland erinnert an die dunkelsten und schwierigsten Zeiten der Sowjetunion", sagt Gruska.

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin