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Zerreißprobe für Irans Establishment

16. Juni 2009

Angesichts der Massenproteste im Iran fragen sich viele europäische Zeitungen, ob die Gegner von Präsident Ahmadinedschad das Mullah-System in seinen Grundfesten erschüttern können.

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Bild: DW

Der Zürcher Tages-Anzeiger schreibt, dass die Massenprotesten zu einer Zerreißprobe für das religiöse Establishment im Iran führen:

"Solches hat der Iran seit der islamischen Revolution vor 30 Jahren nicht mehr gesehen: Hunderttausende machen ihrer Wut auf den Strassen Luft. (...) Khamenei, der starke Mann mit fast unbeschränkten Vollmachten, hat sich verspekuliert. Präsidentenwahlen im Iran sind gelenkte Wahlen. Der Revolutionsführer und ihm nahestehende Gremien bestimmen, wer als Bewerber genehm ist. (...) Doch Mir Hossein Mussavi, ein gemässigter, systemtreuer Reformer, entpuppte sich als ernst zu nehmender Herausforderer. Für das Mullah-System ist das Resultat eine Zerreissprobe, die auch im religiösen Establishment stattfindet, wo sich ein Graben aufgetan hat, wie er in den letzten 30 Jahren nie zu sehen war. Und die Menschen auf den Strassen werden sich nur mit der Annullierung dieser Wahlen zufrieden geben."

Der konservative Mailänder Corriere della Sera schreibt:

"Vielleicht beginnen so die wahren Revolutionen. Was am Montag in Teheran geschehen ist, hat mit den Revolten an der Universität von vor zehn Jahren nichts mehr zu tun: Hier handelt es sich um etwas viel Größeres. Damals protestierten nur die Studenten, gestern waren es alle. (...) Eine Million Menschen? Wahrscheinlich waren es noch viel mehr. (...) Und so scheinen sich die Mächtigen in Teheran (...) nun darum zu bemühen, die Schlacht um den Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Freitag von der Straße in die Institutionen zu verschieben. (...) Denn es ist einfacher, die Meinungsverschiedenheiten in den Zimmern der Macht zu lösen als in der Öffentlichkeit."

Die Pariser Zeitung Le Monde findet, dass der Iran dringend einen Regimewechsel braucht:

"Alles deutet darauf hin, dass die Wiederwahl des Integristen Mahmud Ahmadinedschad zum Präsidenten der Republik (...) ein Handstreich war. Dieses Ergebnis ist das denkbar schlechteste für eine junge Gesellschaft - mehr als die Hälfte der 71 Millionen Iraner sind nach der islamischen Revolution geboren. Und für eine gut ausgebildete Gesellschaft, die unter einem populistischen, ultra-nationalistischem Regime leidet. Im Übrigen hat dieses Regime bei der Innenpolitik seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt und das Image des Iran im Ausland beschädigt."

Die Zeitung La Provence aus Marseille erinnert daran, dass aber auch Ahmadinedschad seine Anhänger hat:

"Das neue Persien besteht aber nicht nur aus dieser Jugend in Teheran, deren Wut von Tag zu Tag anwächst. Der Iran ist auch ein Land mit abgelegenen Provinzen und kleinen Dörfern, die weit weniger nach Modernität streben. Mit Bauern, die weder lesen noch schreiben können und bei denen die Law-and-order-Parolen von Präsident Ahmadinedschad auf fruchtbaren Boden fallen. An ihre Adresse gerichtet verspricht er 'soziale Gerechtigkeit für die Ärmsten' und 'Handabschneiden für die Korrupten'. Dabei prangert er die Ausschweifungen der Neureichen an, die nach Westen schielen."

Die Financial Times Deutschland aus Hamburg fragt sich, was Europa tun kann:

"Die Druckmittel der Europäer gegenüber dem iranischen Regime sind begrenzt. Wer wie Ahmadinedschad die Rolle des Geächteten sogar noch genießt, der wird sich durch die Androhung politischer Konsequenzen nicht zur Raison bringen lassen. Fatal ist es aber, wenn EU-Chefdiplomat Javier Solana und einige Mitgliedsstaaten schon zum jetzigen Zeitpunkt dafür eintreten, den Dialog mit Teheran nicht auszusetzen - und den Mullahs damit faktisch freie Hand geben. Die EU verrät ihre Grundwerte, wenn sie auf die Gewalt gegen die iranischen Regimegegner mit business as usual reagiert. Es sind im Übrigen die gleichen Werte, für die sich die Demonstranten in Teheran verprügeln und verhaften lassen müssen."

Auch die Zeitung Ouest-France aus Rennes in der Bretagne fordert, die Demokratiebewegung im Iran zu unterstützen:

"Ein Volk, das so oft auf die Straße geht, hat letztlich keine Angst mehr. Und dies ist für jedes Regime bedrohlich. (...) Alle Iraner, die Demokratie wollen, halten den Atem an. Sie verdienen eine wirkliche Unterstützung. Im Moment erklären sich die UN, die EU und die USA zwar besorgt. Sie beobachten die Entwicklung der Lage, vermeiden aber jedes greifbare Signal, das nach Einmischung aussehen könnte. Zunächst muss die integristische Linie des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad im Iran bekämpft werden. Nur so sind künftige Zusammenstöße wegen des Atomprogramms zu vermeiden."

Die tageszeitung aus Berlin fürchtet, dass Mussawi klein beigeben und damit den Unruhen die Spitze nehmen könnte:

"Ob aber die Unruhen fortgesetzt werden oder sich gar ausweiten, hängt zu einem nicht geringen Teil von Mussawi und den Führern der Gegenfront wie Chatami und Rafsandschani ab. Sollten sie sich, wie so oft, von Chamenei und den militärischen Führern, die die wichtigste Macht im Land bilden, einschüchtern lassen und klein beigeben, könnte dies eine tragische Enttäuschung für jene zur Folge haben, die Mussawi gewählt haben."

Die Tageszeitung Die Welt schreibt zur Situation im Iran:

"Die Hardliner um Chamenei und Ahmadinedschad wollten im Atomstreit kein Risiko eingehen. Deshalb haben sie mit Manipulation und Gewalt versucht, eine Stichwahl zwischen Ahmadinedschad und Mussawi zu verhindern - und dabei jeglichen Anschein von Legitimität verloren. Das könnte für das Regime letztlich gefährlicher sein als ein möglicher Sieg von Herausforderer Mussawi." (det/wl/afp/dpa)