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Erdogan Merkel

2. November 2011

Deutschland und die Türkei haben den 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gewürdigt. Der Festakt kann aber nicht über die knisternden Spannungen hinter den Kulissen hinwegtäuschen, meint Baha Güngör.

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Schriftzug Kommentar und ein Stift (Grafik: DW)
Bild: DW

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan müssen einfach in vielen Punkten Farbe bekennen. Es ist höchste Zeit für Klartext, damit die traditionellen deutsch-türkischen Beziehungen keinen irreparablen Schaden erleiden. Schließlich können Deutschland und Europa auf die Türkei als zuverlässige wirtschafts- und sicherheitspolitische Partnerin an der südöstlichen Peripherie Europas nicht verzichten. Genauso wenig kann es der Türkei trotz ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Stärke und ihrer großen geopolitischen Bedeutung gelingen, ohne Deutschland und Europa ihre positive Entwicklung auf Dauer abzusichern.

Problemfeld: Mitgliedschaft in der EU

Deutschland hat bislang keine klare Linie, was den türkischen Wunsch nach einer Vollmitgliedschaft in der EU betrifft. Die vielzitierte "privilegierte Partnerschaft" ist ein abgenutzter Begriff. Niemand kann sich darunter etwas vorstellen. Vor allem Deutschland muss da ein klares Signal setzen, warum sie für oder gegen den EU-Beitritt der Türkei ist. Zudem muss ein Zeitpunkt über die endgültige Entscheidung genannt werden. Unklare und dehnbare Formulierungen liefern nur das Wasser auf die Mühlen der anti-türkischen und anti-islamischen Kräfte in Deutschland sowie der anti-demokratischen und anti-europäischen Kreise unter dem türkischen Halbmond.

Baha Güngör (Foto: DW)
Baha Güngör, Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen WelleBild: DW

Die Türkei ihrerseits muss klar zu erkennen geben, ob sie tatsächlich noch in die EU will, oder ob sie sich von ihr bereits abgewandt hat und nur noch damit kokettiert, um möglichst viele materielle Vorteile für sich herauszuschlagen. Es kann einfach nicht akzeptiert werden, dass Erdogan wie ein Kriegsherr alter Schule gegen Israel und gegen das EU-Land Zypern donnert und gleichzeitig die Allianz der Zivilisationen als Alternative zum befürchteten Frontalzusammenstoß der Kulturen beschwört.

Problemfeld: Integration

Zeit für Klartext ist auch auf dem Problemfeld "Integration". Einerseits muss man damit aufhören, alle türkischstämmigen Menschen in Deutschland gleichzusetzen, unabhängig von ihrer jetzigen Staatsangehörigkeit, ihrem tatsächlichen Geburtsort oder dem Umfeld, in dem sie sozialisiert wurden. Es gibt weitaus mehr Türken, die in die deutsche Gesellschaft gut integriert sind, als solche, die es nicht sind. Dennoch wird überwiegend über die Problemfälle gesprochen und berichtet und zwar sehr verallgemeinernd. Integration ist gelungen, wenn sie nicht sichtbar ist. Aber noch immer sind deutsche Einrichtungen weit davon entfernt, bei Bewerbungen nicht nach Namen zu schauen, sondern die Qualifikation zu bewerten. Deshalb ist auch der ausgeprägte Abwanderungswille von gut ausgebildeten Türken in Richtung Bosporus verständlich.

Die Türkei muss ihrerseits einfach verstehen, dass die deutsche Sprache die Grundvoraussetzung für ein spannungsfreies Zusammenleben mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft bleibt. Es ist zwar eine sprachwissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass die deutsche Sprache umso schneller und besser erlernt werden kann, wenn die eigene Muttersprache gut gesprochen wird. Doch die Einrichtung von türkischen Schulen in Deutschland wäre nur kontraproduktiv und würde neue Spannungen heraufbeschwören. In Deutschland soll für die Zuwanderer Deutsch genauso verbindlich sein wie in der Türkei für alle Minderheiten Türkisch verbindlich ist.

Von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, dem politischen Ziehvater Merkels, stammt die Feststellung, dass es weltweit kein weiteres Beispiel für eine derart traditionelle, innige und freundschaftliche Beziehung zwischen zwei Ländern gibt, die räumlich so weit voneinander entfernt sind, wie zwischen Deutschland und der Türkei. Damit es auch so bleibt, müssen beide Seiten genau wissen, wo die Schmerzgrenze der anderen erreicht ist. An Festreden gab es im deutsch-türkischen Verhältnis nie einen Mangel – nun ist aber die Zeit gekommen, klare Orientierungspunkte zu setzen.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Zoran Arbutina