1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zahlreiche Katastrophen und ein Wunder

31. Dezember 2010

Auch 2010 war von Katastrophen und Unglücken gekennzeichnet. Oft standen das Leid der Menschen und ihr Bangen um Angehörige im Mittelpunkt des weltweiten Interesses - einmal bei einer Rettung mit glücklichem Ausgang.

https://p.dw.com/p/zoGh
Arme, kranke, alte Frau sitzt auf dem Boden in Multan Nun (Pakistan) nach der Flutkatstrophe im Oktober 2010. (Foto:DW)
Hunderttausende waren in diesem Jahr von Katastrophen betroffenBild: DW

Zu Beginn des Jahres erschütterte am 12. Januar ein Erdbeben die Karibikinsel Haiti. Das Epizentrum lag 25 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port–au–Prince. Es hatte eine Stärke von sieben auf der Magnituden-Skala. Dem Hauptbeben folgen innerhalb eines Tages zwölf Nachbeben. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt heute, dass etwa drei Millionen Menschen von diesem Erdbeben betroffen sind, für 300.000 kam jede Rettung zu spät.

Haiti

Eine Frau geht durch eine verlassene und zerstörte Straße in Port-au-Prince. (Foto:AP)
Das Erdbeben vom hinterlässt grenzenlose Zerstörung in den StädtenBild: AP

Die Katastrophe ereignete sich um 21:53 Ortszeit. Dunkelheit erschwerte die sofort einsetzenden Bergungsarbeiten. Telefonleitungen sowie Krankenhäuser oder andere Hilfseinrichtungen waren zerstört. Viele Menschen standen innerhalb weniger Minuten vor dem Nichts. Über der Stadt, die zu 80 Prozent zerstört war, lag eine Staubwolke, die Behausungen der Slumgegenden waren mit den Hügeln, auf denen sie gestanden hatten, abgerutscht. Zahlreiche Bewohner wurden unter ihren eigenen Häusern begraben. Kurz nach dem Beben brach das Gesundheitssystem zusammen, im Schutz der anbrechenden Nacht trieben erste Plündererbanden ihr Unwesen. Der Staat Haiti konnte die innere Sicherheit nicht mehr gewährleisten.

Mann geht über eine stinkende und dampfende Müllhalde auf der Suche nach nützlichen Gegenständen. (Foto:AP)
Der Wiederaufbau des zerstörten Landes wird etwa zehn Jahre dauernBild: AP

Auch die Katastrophenhelfer waren von den Auswirkungen des Bebens betroffen. Einige klagten über die nur schleppend anlaufende internationale Hilfe. "Viele unserer Mitarbeiter sind gestorben, unsere Büros sind eingestürzt. Wir haben wichtige Zeit verloren", klagt ein Mitarbeiter des Diakonischen Werks.

Drei Monate nach dem Beben fand in New York eine UN-Geberkonferenz für Haiti statt. Die Schäden wurden auf acht Milliarden Dollar geschätzt. Für die nächsten zehn Jahre sagten die Geberländer Haiti knapp zehn Milliarden Dollar zu.

Tod des polnischen Präsidenten

Am 10. April 2010 war die Tupolew 154 mit dem polnischen Präsident Lech Kaczynski an Bord auf dem Weg nach Smolensk. Er, seine Frau Maria und eine hochrangige Delegation aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wollten an einer Gedenkfeier zur Erinnerung an die 1940 von sowjetischen Offizieren im Zweiten Weltkrieg in Katyn ermordeten polnischen Soldaten teilnehmen.

Eine große Menschenschlange hat sich am 17. April 2010 gebildet. Hunderttausende erweisen dem verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski die letzte Ehre. (Foto:dpa)
Hunderttausende nehmen Abschied vom polnischen Präsidenten Lech KaczynskiBild: picture-alliance/dpa

Während des Landeanflugs auf den nahegelegenen Flughafen von Smolensk geriet das Flugzeug in Turbulenzen und stürzte ab. Die Nachricht löste weltweite Bestürzung aus. In Warschau versammelten sich in den folgenden beiden Tagen 150.000 Bürger am Präsidentenpalast, um Blumen niederzulegen und Kerzen zu entzünden.

Gleich nach dem tragischen Ereignis wurde aus dem zu Lebzeiten umstrittenen Lech Kaczynski ein Martyrer, dessen Leichnam in einer Heldengruft die letzte Ruhe fand. In die heftigen Debatten um das Erbe des verstorbenen Präsidenten mischte sich dessen Zwillingsbruder Jaroslaw ein.

Bei der folgenden Präsidentschaftswahl scheitert er gegen Bronislaw Komorowski, wurde aber dennoch zur neuen Ikone der polnischen Rechten. Seit dem Tod seines Bruders verbreitet er Verschwörungstheorien über angebliche Hintergründe des Unglücks. Zudem bezweifelt er, dass der Leichnam tatsächlich der seines Bruders ist.

"Deepwater Horizon"

Am 20. April ging eine weitere Schreckensnachricht um die Welt: Die Ölbohrplattform "Deepwater Horizon" war im Golf von Mexico rund 80 Kilometer vor der Küste des US-Bundesstaats Louisiana explodiert und stand in hellen Flammen. Zunächst wurde dem Vorfall wenig Beachtung geschenkt, aber dann kam nach und nach das Ausmaß der Katastrophe ans Licht.

Luftbild der brennenden Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexico. (Foto:AP)
800 Millionen Liter Öl fließen vor der Küste Louisianas ins MeerBild: AP

War zunächst noch von 160 000 Litern Öl die Rede, die pro Tag ins Wasser flossen, gab der Betreiber der Plattform BP gut zwei Monate nach dem Unglück bekannt, dass es wohl doch Millionen Liter sind. Es folgte eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmaßes.

Fieberhaft versuchten Experten, das Leck in rund 1500 Meter Tiefe zu schließen. Aber immer wieder scheiterten sie. Wenig später wurde eine kleine Kamera in der Nähe des Lecks angebracht. Sie zeigte Tag und Nacht, wie das Öl ins Wasser strömte und allmählich aufs Land trieb. Es dauerte bis zum 15. Juli 2010, als die erlösende Nachricht im Fernsehen bekannt gegeben wurde: "Seit 30 Sekunden dringt kein Öl mehr aus dem Leck. Die Leitungen von Deepwater Horizion sind dicht."

Luftbil des Ölteppichs, der auf die Küste Louisianas zutrieb. (Foto:AP)
Das ausgetretene Öl trieb auf das Ufer der Küste Louisianas zuBild: AP

Die Bilanz der Katastrophe im Golf von Mexico ist verheerend: Fast 800 Millionen Liter Öl sind ins offene Meer geströmt. Die Ufer sind verseucht, ölverschmierte Vögel strandeten an Land und die Touristen blieben aus. Noch schlimmer traf es die Fischer. Sie wurden mit langen Fangverboten belegt, viele von ihnen waren in ihrer Existenz bedroht.

US-Präsident Barack Obama sprach von einem Warnschuss, aus dem nach der Katastrophe die richtigen Konsequenzen gezogen werden müssten. Es müsste eine neue Strategie entwickelt werden, um in Zukunft Energie gewinnen zu können. Aber aus seinen Plänen wurde nichts – ganz im Gegenteil: die von ihm geforderte Gesetzgebung zum Umwelt- und Klimaschutz stoppte der Kongress.

BP wurde zur Kasse gebeten. Der Mineralölkonzern legte einen Fonds mit 20 Milliarden Dollar auf. Er soll die Forderungen der Fischer und der Tourismus-Industrie ausgleichen.

Love-Parade

Eine Katastrophe ganz anderer Art ereignete sich in Duisburg, wohin am 24. Juli 2010 Techno-Fans aus aller Welt reisten, um an der Love-Parade teilzunehmen. Am Morgen kamen die ersten Sonderzüge mit tanzwütigen meist jungen Menschen in Duisburg an. Nach und nach füllte sich die Stadt, immer mehr Leute strömten auf das Gelände des alten Güterbahnhofs und warteten auf den Startschuss des Musikspektakels.

Ausgelassen tanzten anschließend Jungen und Mädchen nach den Rhythmen der DJ's. Die Raver hatten nur ihre Musik im Kopf, aber gegen 16 Uhr breitete sich Unruhe aus. Am Ende eines 18 Meter breiten Tunnels, der der einzige Zugang zum Veranstaltungsgelände war, kam es innerhalb kurzer Zeit zu einem gefährlichen Stau. Von hinten kamen immer mehr Menschen und nach vorne konnten zu wenige den Tunnel verlassen.

Tausende Raver drängen sich in und vor dem Tunnel in Duisburg, in dem sich eine Massenpanik ereignet hat. (Foto:dpa)
Tausende Raver drängen sich in und vor dem TunnelBild: picture-alliance/dpa

Es entstand ein lebensgefährliches Gedränge – der Tunnel wurde zur Falle. In Panik versuchten viele über einen Container und eine schmale Treppe dem Tumult zu entkommen. Aber zwischen dem Tunnelausgang und der Treppe wurde der Druck immer größer. Menschen stolperten, plötzlich stürzten die ersten, bald waren es ganze Gruppen. Für 21 Menschen kam jede Rettung zu spät – sie wurden tot getrampelt. Aus der Party war eine Katastrophe geworden.

Die Sicherheitskräfte ließen die Veranstaltung weiter laufen. Sie wollten verhindern, dass Zehntausende gleichzeitig zum Bahnhof strömten und dort die nächste Katastrophe hervorrufen könnten. In den Tagen danach boten die Verantwortlichen der Stadt Duisburg – allen voran Oberbürgermeister Adolf Sauerland – ein klägliches Bild. Niemand übernahm die Verantwortung für die dilettantische Vorbereitung, die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen oder die falschen Entscheidungen am Ort des Geschehens.

Pakistan versinkt in den Fluten

Nach heftigen Regenfällen hat Pakistan mit der schlimmsten Flutkatastrophe in der Geschichte des Landes zu kämpfen. Ab dem 29. Juli wird innerhalb weniger Tage etwa ein Fünftel des Landes überschwemmt, rund 21 Millionen Menschen sind direkt oder indirekt von dem Unglück betroffen. Mehr als 1500 Menschen kommen ums Leben, noch drei Monate nach Beginn der Katastrophe treten neue Fälle von Cholera, Dengue- und Krim-Kongo-Fieber auf. Der durch die Flut verursachte Schaden wird auf fast zehn Milliarden Euro geschätzt. Die Vereinten Nationen beklagen wiederholt eine schleppende Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf das Unglück und bitten im größten Spendenaufruf seit ihrer Gründung um Hilfszahlungen in Höhe von umgerechnet mehr als 1,5 Milliarden Euro.

Hitze in Russland

Zur gleichen Zeit kämpften in Russland die Menschen mit einer nie dagewesenen Hitzewelle. Was anfangs nach einem Jahrhundertsommer aussah, entwickelte sich schnell zu einem Albtraum. Das Thermometer ging nicht mehr unter 40 Grad, die Luft war Wochen lang stickig, für viele Menschen bestand akute Lebensgefahr. Meteorologen des russischen Wetteramtes meinten, eine derartige Hitze komme vielleicht alle 1000 Jahre vor und verglichen die klimatischen Bedingungen des Sommers 2010 mit denen der Sahara.

Ein Feuerwehrmann versucht einen Waldbrand nahe der Ortschaft Dolginino in der Region Rjasan, etwa 180 km südöstlich von Moskau zu bekämpfen. (Foto:dapd)
Die russische Feuerwehr war gegen die Feuerwände weitgehend machtlos.Bild: AP

Schnell trockneten die Böden aus, jede achtlos weggeworfene Zigarette konnte ein Inferno auslösen. Ende Juli wurden dann auch die ersten Wald- und Torfbrände gemeldet. Die sich schnell ausbreitenden Brände waren von der Feuerwehr nicht zu kontrollieren. Im August waren mehr als 100.000 Feuerwehrleute in Einsatz, aber gegen die Feuerwände, denen sie gegenübertraten, waren sie weitgehend machtlos.

Landesweit waren es einige Tausend Brandherde, von denen sich einer gefährlich der atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Majak näherte. Aber kurz bevor es zu einer Katastrophe kam, konnte er gelöscht werden. Gleichzeitig verpestete giftiger Rauch die Luft über Moskau und anderen Städten. Menschen mit Atemwegsproblemen gerieten in Lebensgefahr. Im Juli und August starben 50.000 Menschen mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Für das Ende des russischen Sommers sorgte dann die Natur selbst, die mit einem mehrwöchigen stabilen Hoch über Russland die Katastrophe ausgelöst hatte. Sie beendete sie mit einer Regenfront.

Das Wunder in der Atacamawüste

In jenen Tagen ging die Nachricht von einem Minenunglück in der chilenischen Atacamawüste fast unter. Am 6. August wurden 33 Bergleute verschüttet und es bestand wenig Hoffnung, sie lebend bergen zu können. Am 23. August aber geschah ein Wunder, denn eine kleine Sonde hatte einen Schutzraum in 700 Metern Tiefe ausfindig gemacht, in den sich die Bergleute hatten retten können. 17 Tage nach dem Unglück stand ihr Lebenszeichen auf einem kleinen Zettel, den sie an die Sonde gebunden hatten. Der eilig herbei geholte chilenische Staatspräsident Sebastian Pineira verkündete die frohe Botschaft und versprach, dass alles getan werde, um die Kumpel aus dem Bergwerk zu retten.

Auf dem Standbild eines Videos sind einige der verschuetteten Minenarbeiter der San-Jose-Mine in Copiapo, Chile zu sehen (Foto:dapd)
68 Tage eingeschlossen in der Mine San Jose in der AtacamawüsteBild: dapd

Es begann die größte Rettungsaktion in der Geschichte des Bergbaus. Drei Bohrer bahnten sich langsam aber stetig ihren Weg durch das Gestein zur Unglücksmine San Jose. Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, gelang 33 Tage später tatsächlich: Der Bohrkopf erreichte den unterirdischen Schutzraum, in dem die Bergleute seit nunmehr 50 Tagen ausharrten. Oben hatten die Angehörigen der Verschütteten im "Camp der Hoffnung" ihre Zelte aufgestellt, um während der Rettung in der Nähe der Mine zu sein. Als sie vom Durchbruch des Bohrkopfes erfuhren, füllte grenzenloser Jubel die kleine Zeltstadt.

Aber zunächst war es nur ein 12 Zentimeter großes Loch, das die Eingeschlossenen mit der Außenwelt verband und durch das sie gleichzeitig mit dem Nötigsten versorgt werden konnten. Die Stimmung unter Tage war erstaunlich gut, die Bergleute wurden von einem Psychologen zu einem festen Tagesablauf ermuntert. Unter Tage mussten sie Aufräumarbeiten erledigen. Langeweile und Trübsal sollten so vermieden werden.

Ein Bild, das um die Welt ging: Mario Sepulveda nach seiner Befreiung aus der Mine San Jose.(Foto:AP)
Ein Bild, das um die Welt ging: Mario Sepulveda nach seiner RettungBild: AP

Aber es dauerte noch bis zum 13. Oktober. An diesem Morgen waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, das Bohrloch war auf eine ausreichende Größe erweitert und gesichert worden. Eine Rettungskapsel wurde nach unten gelassen. In den folgenden Stunden fuhr sie 33 mal hinab und herauf und brachte so die Bergleute wohlbehalten zurück an die Erdoberfläche. Mario Sepulvida entstieg als Zweiter dem Rettungskäfig. Wie von einer Sprungfeder angetrieben tanzte er mit seinen Rettern. Dabei intonierten sie immer wieder den Schlachtruf, der über die Rettungsaktion stand: Chi-Chi-Chi-le-le-le.

Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Hartmut Lüning