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PolitikAsien

Yoshihide Suga übernimmt Japans Führung

Martin Fritz aus Tokio
14. September 2020

Unter dem Nachfolger von Dauerpremier Shinzo Abe könnte sich Japan nach innen wenden und an internationalem Profil verlieren. Martin Fritz aus Tokio.

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Yoshihide Suga, japanischer Chefkabinettssekretär
Japans designierter Premier Yoshihide SugaBild: Yoshikazu Tsuno/AFP/Getty Images

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit reiben sich die Japaner verwundert die Augen: Nach dem unerwarteten Rücktritt von Premierminister Shinzo Abe Ende August wegen einer schweren Erkrankung hebt seine Liberaldemokratische Partei (LDP) nun überraschend seinen engsten Mitstreiter Yoshihide Suga auf den Schild. Am heutigen Montag hat die LDP Suga zu ihrem Vorsitzenden gewählt, am Mittwoch (16.09.) folgt seine Wahl zum Regierungschef. Die notwendigen Mehrheiten sind ihm sicher. Damit hatte kaum jemand gerechnet.

Eigentlich galt Ex-Verteidigungsminister Shigeru Ishiba als Favorit für die Nachfolge von Abe, der Japan fast acht Jahre regiert hat. Doch die LDP-Schwergewichte, darunter Generalsekretär Toshihiro Nikai und Finanzminister Taro Aso, haben einen Sieg des liberal orientierten Abe-Rivalen de facto verhindert, indem statt aller Parteimitglieder nur die Abgeordneten und einige regionale Vertreter abstimmen dürfen. Dabei ist Suga schon 71 Jahre alt, auch fehlen ihm Ausstrahlung und internationale Erfahrung.

Japan Yoshihide Suga in Tokio
(Archiv) Yoshihide Suga war bisher Regierungssprecher im Ministerrang Bild: picture-alliance/Kyodo

Verschiebung der Schwerpunkte

Als Chefkabinettssekretär, eine Art Regierungssprecher im Ministerrang, und damit faktische Nummer zwei, hielt er seinem Chef Abe stets den Rücken frei, auch bei innenpolitischen Skandalen. Das Duo teilte sich die Arbeit auf: Der Nationalist Abe verfolgte seine Vision vom "wunderschönen Nippon", während Suga sich um die Wirtschaft kümmerte. Daher erwartet der Politologe Sebastian Maslow von der Frauenuniversität Sendai nun eine Verschiebung des politischen Schwerpunkts. "Als Realist wird Suga sein Kapital eher für die Innenpolitik verwenden", meint Maslow.

Zwar gehört der künftige Premier wie Abe und viele Minister dem rechtsnationalen Verband Nippon Kaigi an, der ein starkes Japan predigt. Aber Suga bevorzugt Vorhaben, die den Bürgern direkt nützen. Daher will er nach seinen eigenen Worten die antideflationäre Wirtschaftspolitik der Abenomics mit ultralockerer Geldpolitik, höheren Staatsausgaben und Wachstumsinitiativen fortsetzen. Als Beispiele nannte Suga die Fusion von Regionalbanken und die Digitalisierung der Bürokratie. Aber zunächst müsse er die Folgen der Coronakrise abfedern, meint der Japan-Experte Frank Rövekamp vom Ostasieninstitut der Universität Ludwigshafen. Daher seien radikale Richtungsänderungen kaum zu erwarten.

Gestärktes Profil

Durch den Führungswechsel könnte Japan also an globaler Bedeutung verlieren. Mit Hilfe einer intensiven Reisediplomatie hat Abe von Indien bis Australien das Bewusstsein für die Gefahren einer regionalen Dominanz durch China geschürt. Er erhöhte die japanischen Verteidigungsausgaben, erweiterte den Bewegungsspielraum der Streitkräfte und setzte umstrittene Sicherheitsgesetze durch. Auch versuchte er, einen Schlussstrich unter die Kriegsvergangenheit zu ziehen, was letztlich die Beziehungen zu Südkorea zerrüttete. "Doch Abe hat Japan wieder ein Gesicht gegeben und das Profil seines Landes unerwartet stark gesteigert", meint Rövekamp. Selbst der Spagat zwischen einem leicht entspannten Verhältnis zu China und einem guten Einvernehmen mit US-Präsident Trump sei ihm gelungen.

Das selbstbewusste Auftreten auf der Weltbühne verschaffte Abe den Respekt vieler Japaner, obwohl sie seine revisionistischen Töne nicht mochten. Den eher farblos und mürrisch wirkenden Suga können sich viele nur schwer bei einem G7-Treffen vorstellen. Er fiel den Bürgern erst im Vorjahr auf, als er mit seinem typisch ernsten Gesicht den Namen "Reiwa" (schöne Harmonie) für die Amtszeit des neuen Kaisers Naruhito enthüllte. Seitdem heißt er "Onkel Reiwa".

Japans Regierung gibt Ära des künftigen Kaisers den Namen «Reiwa»
Neuer LDP-Chef alias "Onkel Reiwa"Bild: Reuters/F. Robichon

Der Stilunterschied zu Abe erklärt sich aus seiner Biografie. "Ich habe bei null angefangen, ohne familiäre und andere Beziehungen", betont er. Während Abe als Junge auf dem Schoß des Großvaters im Premierministeramt gesessen hat, zählt Suga zu den seltenen Selfmademen in der LDP. Mit eisernem Willen hat er sich nach oben gearbeitet. Der Spross eines Erdbeerbauern in der schneereichen Nordprovinz Akita brauchte schon für die Bus- und Bahnfahrt zur Oberschule zwei Stunden. Als ältester Sohn hätte er den elterlichen Obstanbau übernehmen können. Stattdessen verdiente er sich das Geld für sein Jurastudium mit Jobs in einer Kartonfabrik und auf dem Fischmarkt in Tokio.

Aufstieg aus dem Nichts

Der Vater von drei Söhnen arbeitete für einen Abgeordneten, bevor er in das Stadtparlament von Yokohama einzog. Beim Abklappern von 30.000 Haushalten verbrauchte er sechs Paar Schuhe. Im Wahlkampf gehörte er zu den ersten, die sich mit Megafon und Handzetteln frühmorgens vor Pendlerbahnhöfe stellten, um bekannter zu werden.

Seit 1996 sitzt er im Nationalparlament. In der ersten Abe-Amtszeit (2006-2007) war Suga Minister für Internes und Kommunikation. Danach blieb er Abe treu und verhalf ihm 2012 zurück an die Parteispitze. Als seine rechte Hand ließ er so viele Machtfäden wie nie zuvor im Kabinett zusammenlaufen. Sein Geschick in der Steuerung der Bürokratie dürfte ihm helfen, seine Pläne durchzusetzen.

Seine Selbstdisziplin zeigen sich auch in seinem rigiden Tagesablauf während der Abe-Zeit. "Ich kann mir gut Ziele setzen und neue Gewohnheiten antrainieren", sagt er. Der Familienvater lebt allein in seinem Parlamentsapartment. Frühmorgens liest er die wichtigen Zeitungen. Bereits im Anzug macht er bei jedem Wetter einen 40-minütigen Spaziergang. Dann trifft er zu jeder Mahlzeit Beamte, Abgeordnete, Bürger und Parteipolitiker, um sein Ohr möglichst nahe am Puls der Zeit zu haben.

Er trinkt und raucht nicht, aber liebt Süßigkeiten. "Ich bin eine Naschkatze", gibt er zu. Die Extrakalorien verbrennt er auf Anraten seines Arztes seit einiger Zeit mit je 100 Sit-ups morgens und abends. Der 71-Jährige hält sich denn auch für fit genug, um die Zügel der Macht länger in der Hand halten zu können. Er will kein Übergangspremier sein, sagte er. Das heißt: Er könnte nach seiner Amtsübernahme vorzeitige Neuwahlen ansetzen, um sich ein eigenes politisches Mandat zu holen.