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Yang Lian über die Macht der Poesie in China

Sabine Peschel / ct27. Juni 2015

Poesie kann in China lebensrettend sein, berichtet der international bekannte Lyriker und Herausgeber Yang Lian. Im DW-Interview erläutert er, warum.

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Dichter und Autor Yang Lian (Foto: imago/gezett)
Dichter und Autor Yang Lian beim Berliner PoesiefestivalBild: imago/gezett

DW: Yang Lian, Sie haben fast die Hälfte Ihres Lebens außerhalb Chinas verbracht - beispielsweise in Neuseeland, Australien, Deutschland und anderen Ländern. Sehen Sie sich selbst immer noch als Schriftsteller im Exil?

Yang Lian: Die Antwort auf diese Frage ist: Welcher kreative Denker ist denn nicht ständig im Exil? In vielen Fällen sind wir Künstler politisch eingeschränkt, doch öfter noch kommerziell oder auch einfach von schlechtem Geschmack. Kreative sind also im geistigen Exil.

Also gibt es selbst in einem Land der grenzenlosen Meinungsfreiheit keine echte Freiheit des Denkens und der Kreativität?

Man wird immer egozentrischer und zynischer in dieser sogenannten globalisierten Zeit, die mit allem verbindet und überall hinreicht. Heute wird viel mehr Blut vergossen als früher - denken Sie nur an das Morden im Nahen Osten. Doppelmoral und eine zynische Einstellung zum Leben gibt es doch nicht nur in Diktaturen oder Autokratien, sondern überall. Dann musst du als Individuum über deine Wirklichkeit nachdenken und entscheiden, ob du darin im Exil bist oder nicht.

Sie haben offensichtlich entschieden, im Exil zu sein. Was bedeutet diese Entscheidung?

Sie bedeutet, dass man die Beschränkungen des eigenen Verstandes infrage stellen muss. Und basierend auf dieser geistigen Herausforderung muss man Entscheidungen über seine tatsächlichen Handlungen treffen.

Das hört sich ziemlich abstrakt an. Wie sieht es damit im richtigen Leben aus?

Ein chinesischer Dichter beispielsweise, der auf der ganzen Welt lebt, ist demnach einerseits verpflichtet, für Meinungsfreiheit in China zu kämpfen, und einen positiven Kulturumschwung anzukurbeln.

Allerdings müssen wir auch internationale Widersprüche auflösen, vor allem im Westen. Große Firmen kommen in Länder wie China und bauen dort Fabriken, um dort die Wanderarbeiter mit extrem niedrigem Lohn unter schlechten Lebensbedingungen auszubeuten. Und dann verkaufen sie auf der ganzen Welt ihre Produkte zu internationalen Preisen und mit einer großen Gewinnspanne. Das ist der Zynismus und die Doppelmoral, denen wir jeden Tag begegnen. Und deshalb müssen wir dem mit einer klaren Meinung entgegentreten.

Menschen stürzen sich auf Bücher: Run auf Bücher bei der Pekinger Buchmesse (Foto: EPA/WU HONG)
Run auf Bücher bei der Pekinger BuchmesseBild: picture-alliance/dpa/W. Hong

Erst seit wenigen Jahren können Sie wieder ohne Probleme nach China einreisen. Oder gibt es doch noch Restriktionen?

China ist ein komplizierter Fall, denn es ist nie schwarz oder weiß, sonder immer schwarz und weiß. Ja, mittlerweile kann ich nach China einreisen. Wie ich gesagt habe, ich will mich einbringen und dort für einen Wandel kämpfen: politisch, kulturell, aber auch literarisch. Das bedeutet zum Beispiel, einen Online-Preis an dichtende Chinesen jeder Couleur zu verleihen - oder Lyrik-Festivals zu organisieren, die einen weltweiten Austausch zwischen Dichtern ermöglichen. Oder Bücher herauszugeben.

Doch auch hier muss gesagt werden: Solche Sachen sind problematisch in China. 2011 bin ich das letzte Mal mit Zensur konfrontiert worden, als mein autobiographisches Gedicht in Buch-Länge, "The Narrative Poem", nur einen Tag in chinesischen Buchläden überlebte. Alle 3.000 Ausgaben wurden zurückgerufen und zerstört.

Aus welchem Grund?

Das geschah aufgrund eines Teils des Gedichts: ein eigenständiges, kürzeres Gedicht mit dem Titel "Reality Elegy". Ich konnte es mir darin nicht verkneifen, über das Tian'anmen-Massaker zu schreiben. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben, aber auch einer für die Entwicklung der chinesischen Kultur der letzten Jahre. Es ist immer noch ein Tabu, darüber zu sprechen, wie die Regierung im Juni 1989 die demokratische Bewegung niederschlug und ein Massaker anrichtete. Deshalb schaute die Regierung sehr genau auf das Gedicht. Der Verlag "Huaxia" wurde von der Regierung abgemahnt und damit ist dann leider auch auch das Buch gestorben.

Wie viele Bücher konnten Sie retten?

Ich erhielt etwa 25 Kopien vom Verlag. Das war aber nur der erste Akt für mich. Etwa eine Woche lang war ich traurig. Aber dann überlegte ich mir, dass ich eben die Bedeutung dieser Geschehnisse in meinem Leben und in der Literatur einordnen wollte. Ich wollte über Tian'anmen schreiben, auch, wenn ich darüber auf sehr poetische Art und Weise schrieb. Wäre das Buch veröffentlicht worden und niemand hätte daran Anstoß genommen, dann hätte ich mir Sorgen machen müssen. Demnach war die Tatsache, dass das Buch verboten wurde, eine Bestätigung der Wucht und der Ausdruckskraft der Dichtkunst. Das zeigte auch, dass selbst in einer Zeit, von der gesagt wird, dass niemand Gedichte liest, Menschen dies eben doch tun.

Dann wurde mein verbotenes Buch in Hongkong, Singapur, Taiwan und in Übersee veröffentlicht. Und nun sogar in China. Man kann das Gedicht kostenlos im Internet herunterladen.

Also kann man sagen, dass Gedichte subversiv wirken können?

In China ist Lyrik immer noch extrem wichtig. In der chinesischen Kultur genauso wie im sozialen Leben in China.

Dichter Zang Di auf dem Poesiefestival 2015 in Berlin (Foto: Imago / Mike Schmidt)
Zang Di gehört zu den bekanntesten Dichtern Chinas und zu den Preisträgern des Online-Poesie-WettbewerbsBild: imago/Mike Schmidt

Warum ist das so? Lesen die Leute viele Gedichte in China?

Ja, das tun sie. Als ich beispielsweise 2012 von der Webseite artsbj.com gefragt wurde, deren künstlerischer Leiter zu werden, habe ich vorgeschlagen, einen Online-Poesie-Wettbewerb ins Leben zu rufen, der offen ist für jede Art chinesischer Lyrik. Wir bestimmten ein internationales Komitee und besetzten die Jury mit sieben bekannten chinesischen Dichtern. Doch niemand hatte damit gerechnet, dass mehr als 80.000 Einsendungen innerhalb von einem Jahr unser Postfach überfluten würden. Und an jedem guten Gedicht hingen noch 30 bis 40 Seiten Kommentare. Das war schon fast wie ein Poesie-Festival, das ein Jahr andauert.

Wie haben Sie es geschafft, so eine Flut von Einsendungen zu bewerten?

Es dauerte ein ganzes Jahr. Wir haben die besten Gedichte mit einem Stern markiert, sodass wir zunächst 10 bis 20 Prozent heraussiebten, die in die nächste Auswahlrunde kamen. Aus dieser Vorauswahl kürte die Jury dann die Gewinner. Alle Teilnehmer benutzten nur ihren Künstlernamen oder ein Pseudonym.

Darunter war zum Beispiel der jetzt weltweit bekannte Dichter Guo Jinniu, das ist sein richtiger Name. Er bewarb sich unter dem Namen "passionate diamond". Wir wussten nicht, ob wir es mit Mann, Frau, alt oder jung zutun hatten. Aber ich erkannte, dass er sehr persönlich, kreativ und ausdrucksvoll über die Erfahrungen der Wanderarbeiter schrieb. 2012 gewann er den ersten Preis. Seine Sammlung, "Returning to Homeland on Paper", ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt worden und hat viele Preise gewonnen. Durch Guo Jinniu wurde Arbeiter-Poesie zu einer wichtigen Strömung und bekam Aufmerksamkeit von allen Schichten der Gesellschaft.

Dichter Jiang Tao auf dem Poesiefestival 2015 in Berlin (Foto: Imago / Mike Schmidt)
Dichter und Dozent Jiang Tao, einer der Juroren des Online-Poesie-Wettbewerbs von artsbj.comBild: imago/Mike Schmidt

Ein weiterer junger chinesischer Dichter beging Selbstmord am Vorabend des 1. Oktober 2014, dem Nationalfeiertag in China. Xu Lizhi war erst 24 Jahre alt. Wie haben seine Gedichte leider erst nach seinem Tod entdeckt und bemerkt, was für ein talentierter junger Schreiber er war.

Wo haben Sie seine Gedichte gelesen?

Sie waren noch nicht als Buch veröffentlicht. Ich habe sie online gelesen, nachdem ich von seinem Tod gehört hatte. Wenn er nur seine Gedichte auf unsere Webseite gestellt hätte - er hätte sofort Unterstützung erhalten. Die Herzlichkeit der Dichter und Leser hätte ihm geholfen. Das hätte sein Leben retten können.

Das Interview führte Sabine Peschel.