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Wissen für alle

Sabine Oelze24. Dezember 2012

Es gibt viele Möglichkeiten: Rasen mähen gegen Putzen, Einsteins Relativitätstheorie gegen Kommaregeln: Wissen und Talente miteinander zu tauschen, liegt im Trend.

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Kleingärtner-Kolonie in Hamburg Foto: Angelika Warmuth dpa/lno
Bild: picture-alliance/dpa

"Jeder Mensch weiß etwas, das andere interessiert!" Da ist sich Christian Wenzel sicher. Es müssen nur die verborgenen Talente ans Licht geholt werden. Der 33-jährige Medienwissenschaftler hat sich deshalb mit vier Freunden zusammengetan und den Austauschhafen Köln gegründet. Alle zwei Wochen treffen sich Interessierte an verschiedenen Orten , um Vorträge anzuhören und anschließend darüber zu diskutieren. Hobby-Physiker geben Einblick in Einsteins Relativitätstheorie, angehende Lehrer referieren über die Grundlagen der Grammatik oder ein selbständiger Vater erzählt, wie es ist, frei zu arbeiten und gleichzeitig vier Kinder zu erziehen.

Menschen sitzen neben einem Plattenspieler Foto: Wenzel
Austauschhafen zum Thema "Wohnen ohne Wohnung" und "Lebensmittel selber einmachen"Bild: Austauschhafen

Kein Fachwissen, sondern Lebensweisheiten sollen ausgetauscht werden. "Nicht-Professionalität ist gefragt", sagt Wenzel. Einmal hat sogar ein Obdachloser davon erzählt, wie es ist, auf der Straße zu leben. Brach liegendes Potenzial, das in der ökonomischen Verwertungskette keine Rolle spielt, bekommt eine Wertschätzung. "Der Name Austauschhafen verweist darauf, dass wir uns um den Umschlag von Wissen kümmern wollen", so Wenzel.

Gemeinsam geht es besser

Der Austauschhafen ist offen für alles. Die Idee stammt aus den USA, wo seit 2010 in zahlreichen Großstädten in sogenannten Trade Schools "normale" Menschen praktisches oder auch theoretisches Wissen weitergeben. Ein bisschen Sozialromantik schwingt mit, wenn Wenzel die Idee vom Austauschhafen erklärt: "Die Frage ist: Wie wollen wir leben? Wie verändert sich in Zukunft unsere Lebens- und Arbeitswelt?"

Das Wir-Gefühl stärken, Gemeinschaft neu definieren, das sind Themen, die derzeit viele Menschen in Deutschland beschäftigen. Nicht nur, weil die Medien immer wieder Horrorszenarien von drohenden Staatspleiten und Inflation verbreiten, sondern auch, weil in Zeiten drohender Ressourcenknappheit gegenseitige Unterstützung gefragt ist. Ein anderer Grund: Wer im Berufsleben alleine am Computer vor sich hin arbeitet, erfährt oft wenig spontane Anerkennung für seine Leistung.

Schaubild mit Gebärdensprache Foto: Wenzel
Einführung in die GebärdenspracheBild: Austauschhafen

Jedes Talent zählt gleichviel

Das kennt man alles schon irgendwie: Auch die Tauschringe, von denen 1992 die ersten in Deuschland entstanden, wollen eine Alternative zum regulären Markt, der gerade in Krisenzeiten viele Menschen ausschließt, darstellen. Inzwischen sind es mehr als 350. In Groß- und Kleinstädten organisieren sich Selbständige, Angestellte oder Rentner, um in ihrer freien Zeit Dienstleistungen zu tauschen.

"Tauschen kann man alles: was man gelernt hat oder was man einfach gut kann", sagt Marina Müller. Als sie den Tauschring Köln vor zehn Jahren gründete, bot sie Tipparbeiten am Computer an, um dafür im Gegenzug Massagen zu bekommen oder sich ihre Fenster putzen zu lassen. Inzwischen lässt sie sich die Organisation des Tauschrings durch Massagen "bezahlen". "Geld im herkömmlichen Sinne haben wir bei uns nicht", erklärt sie. Und auch keine Punkte, wie sie manche Online-Tauschbörsen anbieten. Dort gibt es eine Skala, auf der die Tätigkeiten bewertet werden. Einfache Arbeiten wie Fensterputzen haben nicht den gleichen Stellenwert wie beispielsweise Sprachenunterricht. Der Tauschring Köln verzichtet auf solche Unterscheidungen: Er hat eine eigene Währung. Die "Talentstunde" richtet sich allein nach der investierten Zeit. "Es geht um Fähigkeiten und nicht um Qualifikation", so Müller. Die 170 Mitglieder bieten Lebenszeit an. "Die Talentstunde hat mit dem Verdienst in Euro nichts zu tun." Im Klartext heißt das: Fenster putzen ist genauso wertvoll wie Nachhilfeunterricht am Computer. "Unterschiedliche Bezahlung haben wir im normalen Arbeitsleben, das wollen wir hier nicht kopieren", sagt Müller.

Ein grüner Talentschein Copyright: Marina Müller.
Für eine Stunde Arbeit gibt es diesen grünen ScheinBild: Tauschring Köln

Die Nachhaltigkeitsforscherin Kora Kristof vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie untersucht die Rolle von Tauschringen. Sie nennt als Hauptmotivationen der Teilnehmer den Wunsch nach einer "menschengerechten Art der Ökonomie" und einer "sinnvollen Freizeitgestaltung".

Lebenszeit statt Qualifikation

Tauschringmitglieder sind von der Sache überzeugt. Sie glauben an die Idee einer anderen Art von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Wo der eine Defizite hat, springt ein anderer in die Bresche. "Zu 90 Prozent sind die Mitglieder Selbständige und Angestellte. Nur zehn Prozent sind Rentner, Studenten oder Erwerbslose", erzählt die Initiatorin des Tauschrings Köln. Die Hitparade der Dienstleistungen wird angeführt von Handwerksarbeiten, gefolgt von PC-Hilfe, Hausarbeiten, Massage und Haare schneiden. Mindestens einen unschlagbaren Vorteil hat das Tauschen: Das Talentstundenkonto kann nie ins Minus abrutschen, einen Dispo gibt es nämlich erst gar nicht.

Hand mit Gummihandschuh säubert Schrank Bild: Fotolia/senkaya
Putzen rangiert oben auf der TalenthitparadeBild: Fotolia/senkaya