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Wird Containern in Deutschland straffrei?

12. Januar 2023

Das Fischen nach genießbaren Lebensmitteln aus dem Müll könnte in Zukunft geduldet werden. Doch das Grundproblem der Lebensmittelverschwendung bleibt.

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Personen mit Lauch und Gurke vor einer blauen Mülltonne
Studenten nehmen weggeworfene Lebensmittel aus einer MülltonneBild: Christiane Raatz/dpa/picture alliance

Ein welker Kopfsalat und ein paar braune Bananen. Vielleicht liegt die karge Beute, welche die Greifswalder Polizisten im Rucksack von Salome K. fanden, später einmal präpariert als Museumsstück im deutschen Haus der Geschichte. Mit dem Hinweisschild: "Wegen dieser Lebensmittel landete 2022 eine der letzten Personen in Deutschland wegen Containerns vor einem Gericht."

Denn geht es nach Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne), soll das Fischen nach genießbarem Essen in den Abfallcontainern der Supermärkte bald straffrei bleiben, sofern kein Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung vorliegt. "Wer Lebensmittel vor der Tonne rettet, sollte dafür nicht weiter strafrechtlich verfolgt werden", sagt Özdemir.

In einem gemeinsamen Schreiben an die Justizministerinnen und Justizminister der Länder werben die Bundesminister dafür, den Vorschlag des Landes Hamburg zu unterstützen. Eine Änderung der sogenannten "Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren" ist Ländersache, 2019 war eine ähnliche Initiative Hamburgs auf der Justizministerkonferenz gescheitert.

Lebensmittelhandel lehnt Vorstoß der Minister ab

Während gerade viele Studierende in Deutschland den Vorstoß feiern, die jeden Cent umdrehen müssen und mit Containern ihren manchmal gähnend leeren WG-Kühlschrank füllen, ist Christian Böttcher von der Initiative weniger angetan. Der Pressesprecher vom Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels sagt der DW:

"Aus unserer Sicht besteht rechtlich gesehen kein Handlungsbedarf. Auch jetzt schon können Staatsanwaltschaften solche Verfahren wegen Geringfügigkeit einstellen, wenn es sich um Tonnen handelt, die frei zugänglich sind, also weder mit einem Schloss gesichert werden, noch in eingezäunten Bereichen stehen. Der Regelungsvorschlag der beiden Minister ist daher unnötig."

Porträtbild Mann mit weißem Hemd und Blauem Sakko
"Wir wandern auf einem schmalen Grat - Lebensmittel an Tafeln abgeben, Sicherheit nicht gefährden" - Christian BöttcherBild: BVLH/Andre Wagenzik

Böttcher treibt aber vor allem etwas anderes um, und damit liegt er paradoxerweise auf der gleichen Linie wie die meist jungen Menschen, die containern: die unglaublich hohe Lebensmittelverschwendung hierzulande - elf Millionen Tonnen Abfälle im Jahr. Doch die Lebensmittelbranche sieht sich zu Unrecht an den Pranger gestellt, denn sie ist nur für sieben Prozent der Verluste verantwortlich.

"Dort, wo also mit die geringsten Verluste anfallen, will man mit einer rechtlichen Konkretisierung - die auch nur einen kleinen Teilbereich der aktuellen Container-Fälle betrifft - einen wirksamen Beitrag zur Reduzierung von Lebensmittelvernichtung leisten. Das passt doch nicht zusammen. Diese Initiative bringt nichts im Hinblick auf die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung."

Deutschland will Lebensmittelverschwendung halbieren

Laut UN Food Waste Index 2021 ist Deutschland bei der Verschwendung von Lebensmitteln durch private Haushalte in Europa sogar trauriger Spitzenreiter, weltweit werfen nur noch China, Indien, die USA und Japan mehr Nahrung weg. 931 Millionen Tonnen landen weltweit nach Angaben der Vereinten Nationen in der Tonne, während gleichzeitig über 800 Millionen Menschen auf der Erde an Unterernährung leiden und hungern. Im Tschad, Madagaskar oder dem Jemen dürfte man die Diskussionen in Deutschland um das Containern daher mit großer Verwunderung verfolgen.

Immerhin: Die deutsche Regierung hat sich das Ziel gesetzt, die gesamte Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. Auch dadurch, dass mehr Produkte bei den 960 Tafeln landen. Vor genau 30 Jahren gründete sich hierzulande die erste dieser Hilfsorganisationen, heute ist es die größte sozial-ökonomische Bewegung, um gleichzeitig Lebensmittel zu retten und armutsbetroffenen Menschen zu helfen. Alle Tafeln arbeiten mit den Lebensmittelhändlern zusammen, bei ihnen stehen die schon leicht harten Brote, die Äpfel mit Druckstellen oder auch die Konservendose mit der Delle im Regal, welche die Supermärkte nicht mehr verkaufen können.

Tafeln in der Krise

"Unsere Mitglieder spenden im Jahr ungefähr 75 bis 80.000 Tonnen Lebensmittel an die Tafeln. Wir geben Produkte an die Tafeln aber nur ab, wenn sie sicher sind, wenn sie also keine Gesundheitsgefahr mehr beinhalten", sagt Christian Böttcher. Der vorbeugende Verbraucherschutz sei auch der Grund, warum viele Lebensmittel der Supermärkte nicht bei den Tafeln, sondern im Müll entsorgt werden. "Wir schließen unsere Tonnen ab oder wir zäunen sie ein, um das Risiko von vornherein so klein wie möglich zu halten, dass man sich mit Lebensmitteln aus der Tonne einer Gesundheitsgefahr aussetzt oder sich einen gesundheitlichen Schaden zufügt." 

Größtes Problem: die Haftung

Klassisches Beispiel: der Waren-Rückruf. Stellt ein Hersteller fest, dass ein Lebensmittel während des Produktionsprozesses zum Beispiel mit Plastikstücken verunreinigt wurde, informiert er umgehend den Händler. Weil es aber viel zu teuer wäre, die Ware zurückzuschicken, landet sie dort vom Lager direkt im Müll. Auch deswegen ist Böttcher gegen eine Legalisierung des Containerns, weil es von außen nicht erkennbar sei, ob die Waren aus einem Rückruf kommen oder nicht.

Der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels fürchtet also, für entnommene Lebensmittel aus den Containern haftbar gemacht zu werden, die vielleicht nicht mehr genießbar sind. Rolf Sommer hätte da schon so eine Idee, wie man das Problem der Haftung lösen könnte. Der Leiter des Fachbereichs Landwirtschaft und Landnutzungswandel beim WWF sagt:

"Wer keinen Kassenbon für Lebensmittel vorlegen kann, kann das Unternehmen nicht dafür haftbar machen, dass man sich womöglich selbst geschadet hat. Wer entsorgte Lebensmittel entnimmt, ist dann schon eigenverantwortlich, weil zwischen den zwei Parteien kein Vertrag in dem Sinne abgeschlossen wurde. Es gibt viele Märkte, die gerne auch ihre abgelaufene Ware weitergeben möchten, aber die können sich damit womöglich strafbar machen."

Gegen die Verschwendung: Vorbild Italien

Für Deutschland lohnt sich ein Blick gen Süden, nach Italien. Dort gibt es nicht nur finanzielle Anreize wie Steuererleichterungen, wenn Unternehmen ihre Lebensmittel nicht mehr wegwerfen, das sogenannte "Gute-Samariter-Gesetz". Unternehmen und Initiativen werden demnach auch von der Haftung freigestellt, wenn es sich nicht um eine grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz handelt.

Porträtbild Mann mit Sakko und weißem Hemd
"Auch die Verbraucher müssen umdenken, dass nicht immer alle Regale im Supermarkt voll gefüllt sind" - Rolf SommerBild: Gesa Labahn/WWF

Doch rechtliche Fragen auszuräumen und Containern zu legalisieren, können für Sommer in Deutschland nur der Anfang sein. Zwar sei jedes Lebensmittel, das gerettet werde, natürlich etwas Positives. Gleichzeitig werde aber das Problem noch nicht direkt an der Wurzel gepackt. Der flammende Appell des Landwirtschaftsexperten:

"Es müssen alle Unternehmen entlang der Lieferkette verpflichtet werden, Lebensmittel zu reduzieren. Die Regierung muss alle Wirtschaftsbeteiligten verpflichten, durch verbindliche Reduktionsziele die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, ausgehend von der Landwirtschaft. Containern muss langfristig überflüssig gemacht werden."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur