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"Wir sind ans Sterben gewöhnt"

Nalan Sipar18. Februar 2016

Nach der Explosion in Ankara kündigt Erdogan Vergeltung gegen die PKK an. Betroffen sind vor allem kurdische Zivilisten, die ihre Heimat verlassen. Andere kommen bewusst zurück in den Südosten des Landes.

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Anschlag in Ankara - brennender Bus. Foto: Haluk Yavuzhan / Anadolu Agency (c) Picture alliance
Bild: picture-alliance/AA/M. Kaynak

"Ist bei dir alles in Ordnung?" schreibe ich an Berivan Seyit (Name geändert) nach der Explosion in Ankara. Die 21-jährige Kurdin studiert seit einem Jahr in der türkischen Hauptstadt. Als wir uns vor einigen Jahren in Diyarbakir, der Hochburg der Kurden, kennenlernten, erzählte sie mir mit Begeisterung, sie wolle unbedingt studieren. Damals verhandelte die türkische Regierung ein Friedensabkommen mit der PKK und Berivan hoffte, dass der Südosten der Türkei bald einen Aufschwung erleben werde und sie nach ihrem erfolgreichen Studium in ihre Heimat zurückkehren und sich nützlich machen könne.

Doch ihre Antwort auf meine Frage war eher trist. "Ich bin nicht mehr in Ankara", antwortete sie. "Ich habe mein Studium auf Eis gelegt und bin zurück nach Diyarbakir gezogen." In Teilen von Diyarbakir führten türkische Sicherheitskräfte einen Krieg, den die Menschen im Westen der Türkei ignorierten. "Ich will meine Menschen hier nicht allein lassen und bin deshalb wieder in Diyarbakir", fügt sie hinzu.

Leiche für sieben Tage auf offener Straße gelassen

So wie Berivan will auch Aram Tastekin Diyarbakir nicht verlassen. "Heute ging eine Bombe hier in Diyarbakir hoch", erzählt er. Der 27-Jährige ist eigentlich Theaterspieler von Beruf. Doch sei er seit Monaten mehr in Gerichtssälen zu sehen als auf der Theaterbühne. "Mir wird die Leitung einer Terrororganisation vorgeworfen", sagt Aram. Doch davon wisse er nichts, sagt er. Aram habe lediglich Bilder von einer Demonstration gemacht und sei daraufhin für mehrere Tage in Gewahrsam genommen und gefoltert worden. "Momentan ist die Situation in der Region so unübersichtlich und kritisch, dass ich keine Angst mehr vor meiner Verhaftung habe. Ich habe vielmehr Angst, dass Diyarbakir so endet wie Cizre", befürchtet der junge Mann.

Mit der Stadt Cizre meint Aram die von den türkischen Sicherheitskräften verhängte und 67 Tage andauernde Ausgangssperre in der Stadt (14.12.2015-11.02.2016)

Während dieser Ausgangssperre sind laut der prokurdischen Oppositionspartei HDP allein seit Mitte Dezember 2015 rund 80 Zivilisten getötet worden. Besonders die Erschießung von einer älteren Frau namens Taybet Inan ging durch die Medien und wurde heftig kritisiert. Taybet Inan verließ trotz Ausgangssperre ihr Haus und wurde von Scharfschützen erschossen. Sieben Tage lang lag ihre Leiche auf offener Straße, weil ihre Familie ebenfalls nicht ihr Haus verlassen durfte. Später erzählten ihre Kinder, sie hätten die Leiche ihrer Mutter vom Fenster aus beobachtet, um Tiere abzuschrecken, die ihre Leiche auffressen wollten.

Türkische Soldaten in Cizre - Ausgangssperre und PKK Kontrolle. Foto: Anadolu Agency picture alliance/AA/Str
Soldaten in Cizre kontrollieren PKK-AktivitätenBild: picture alliance/AA/Str

"Wir sind ans Sterben gewöhnt"

"Wie schlimm kann es denn hier noch werden? Was kann uns denn noch passieren?", fragt Berivan aus Diyarbakir. Sie war vor wenigen Tagen auf der Beerdigung eines Freundes, der in Cizre von türkischen Sicherheitskräften getötet worden sei. "Während der Ausgangssperre suchte mein Freund mit weiteren Menschen Schutz in dem Keller eines Gebäudes, der von den Sicherheitskräften attackiert wurde", erzählt die 22-Jährige. "Seine Leiche geht mir nicht aus dem Kopf. Ich träume jede Nacht von ihm", sagt sie. Die Leiche sei vollständig verbrannt gewesen.

Nach diesem Einsatz in Cizre warf die den Kurden nahestehende "Demokratische Partei der Völker" der Regierung vor, ein Massaker an mindestens 60 Menschen verübt zu haben. "Wir sind gewöhnt ans Sterben. Aber wir befürchten viel viel mehr Tote in nächster Zeit", sagt Berivan.

Die Menschenrechtsorganisation IHD aus Diyarbakir führt 17.640 Menschenrechtsverletzungen in ihrer Bilanz für 2015 zusammen und warnt vor einer willkürlichen Staatsgewalt und Repression gegenüber Kurden im Südosten der Türkei. Bisher seien im Kurdengebiet 211 Zivilisten getötet worden.

Türkei Zerstörte Straßen in Cizre. Foto: picture alliance/abaca
Zerstörte Straßen in Cizre - endlose KämpfeBild: picture alliance/abaca

Ab März erwarten Kurden verstärkte Kämpfe

In dieser immer gefährlicher und unübersichtlicher werdenden Situation fliehen viele Menschen aus ihren Häusern und Städten im Südosten des Landes. In den Städten Cizre oder Silopi forderte sogar das Bildungsministerium alle Lehrer auf, ihren Dienst zu unterbrechen, um an angeblichen Fortbildungen teilzunehmen. Ca. 3000 Lehrer verließen die Städte und ihre Schüler. Die hinterbliebenen Kurden sprachen von "Verrat" und befürchteten noch mehr Repressionen.

Trotz und vielleicht gerade wegen dieser Repressionen kehren viele Jugendliche wie Berivan aus westlichen Städten zurück in ihre Heimatstädte im Südosten der Türkei. "Ich bin nicht die einzige, die zurückgekommen ist, um unseren berechtigten Kampf zu kämpfen", sagt sie. Die Menschen in der Region seien zutiefst verunsichert und würden unter einem Kriegstrauma leiden. "Die Menschen hier erwarten, dass die kurdischen Kämpfer auf den Bergen zurückschlagen", sagt sie. Wenn der Frühling komme, dann werde noch viel mehr passieren und es würden viel mehr Jugendliche in die Berge gehen.