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'Mehr Solidarität'

26. August 2009

Insgesamt ist die Zahl der Flüchtlinge, die über den Seeweg nach Europa kommen, im ersten Halbjahr 2009 gesunken. Was dahinter steckt, erklärt UNHCR-Sprecher Stefan Telöken im Interview mit DW-WORLD.DE.

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Stefan Telöken, Pressesprecher UNHCR(Foto: Brunnert/UNHCR)
Stefan Telöken: Die EU kann mehr Flüchtlinge aufnehmen.Bild: Brunnert/UNHCR

DW-WORLD.DE: Rund 15.700 Flüchtlinge zählte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, im ersten Halbjahr 2009. Das ist weniger als ein Viertel der Flüchtlinge im Jahr 2008. Herr Telöken, ist das tatsächlich eine positive Entwicklung?

Stefan Telöken: Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Zum Teil hat die Politik verschiedener Staaten, an den EU-Außengrenzen Boatpeople abzuhalten, Wirkung gezeigt. Das gilt für Spanien mit Blick auf die westafrikanischen Staaten, das gilt für Italien mit Blick auf Libyen. Das wird sicherlich ein Grund sein. Zum anderen Teil kann es auch an der Wirtschaftskrise liegen - auch wenn wir da keinen eindeutigen Hinweis haben auf die wirtschaftliche Situation. Die Krise könnte gerade jene Menschen von dieser gefährlichen Überfahrt nach Europa abgehalten haben, die versuchen, einen Arbeitsplatz in der EU zu finden.

Trotzdem machen sich immer noch viele Menschen auf den Weg Richtung Europa?

Insgesamt bleibt das Thema der Kluft zwischen der Ersten und Dritten Welt natürlich weiterhin bestehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Kluft auch noch weiter vertiefen wird. Allerdings muss man auch sagen, dass uns die Tragödie der Bootsflüchtlinge zu Recht sehr präsent ist. Aber gemessen an der Gesamtzahl jener Menschen, die nach Europa kommen, und vor allen Dingen der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, ist die Zahl derjenigen, die aus afrikanischen Staaten kommen, sehr gering. Und auch die Zahl der Bootsflüchtlinge ist im Verhältnis eher gering. Die meisten Menschen fliehen über die Landgrenzen.

Sudanesische Bootsflüchtlinge auf Sizilien (Foto: dpa)
Sudanesische Bootsflüchtlinge auf SizilienBild: picture-alliance/ dpa

Italien ist nach wie vor das bedeutendste Zielland für Bootsflüchtlinge, allerdings erschwert ein Abkommen zwischen Italien und Libyen die Flucht. Was genau steckt dahinter?

Im Juni haben Italien und Libyen eine Vereinbarung getroffen, dass Menschen, die von italienischen Schiffen vor der italienischen Küste abgefangen werden und nach Libyen gebracht werden, wenn klar ist, dass ihr Boot in Libyen gestartet ist. Und es hat jetzt mehrfach dazu geführt, dass auch Schiffe nach Libyen zurückgebracht worden sind. Unsere Sorge dabei dreht sich um diese Menschen, die Schutz suchen, die Asyl brauchen - und das ist ein nicht geringer Anteil jener, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Die haben keine Möglichkeit, dieses Asyl in Libyen zu erhalten. Das Land besitzt kein Asylsystem, hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben und UNHCR hat dort nur sehr beschränkten Zugang zu Flüchtlingen oder Schutzsuchenden.

Bislang sind die Standards der Asylverfahren in der EU unterschiedlich geregelt. Welche Vorteile brächte eine EU-weite Regelung und wie müsste diese aussehen?

UNHCR-Zeltaufbau in der Region Darfur im Sudan
UNHCR hilft Flüchtlingen weltweitBild: picture-alliance/ dpa

Der Asylharmonisierungsprozess steht nicht erst am Anfang, sondern er ist mittlerweile in seiner dritten Phase, aber wir sind immer noch weit davon entfernt, gemeinsame Regeln für die EU zu haben. Wir haben gemeinsame Richtlinien und wir haben gemeinsame Kriterien, aber die bestehen eben auf dem Papier - in der Praxis sieht es ganz anders aus. Wir haben in dem einen Land sehr hohe Anerkennungsquoten für Flüchtlinge, zum Beispiel aus dem Irak, in einem anderen Land sind sie aber sehr niedrig, das gilt für Griechenland. In dem einen Land gibt es funktionierende Asylsysteme, in anderen Ländern bestehen diese Systeme wiederum nur auf dem Papier - siehe Griechenland. Ein wesentliches Ziel ist demnach, dass in der EU in den nächsten Jahren ein Schutzstandard erreicht werden muss: mehr Qualität im Asylverfahren und mehr Solidarität nach innen, aber eben auch nach außen, was die EU angeht. Das sind die beiden wesentlichen Bausteine, auf die das zukünftige Asylsystem der EU bauen muss.

Glauben Sie, dass das gelingen wird?

Das ist ein langsamer Prozess und es gibt sehr viele Rückschläge. Und wenn wir jetzt auf die jüngsten Ereignisse zurückschauen, zum Beispiel aufs Mittelmeer, dann muss man skeptisch sein. Nach wie vor gilt – und das muss man eben kritisch anmerken –, dass es danach geht, sich möglichst nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, was die Asylharmonisierung angeht. Aber es gibt sicherlich auch Fortschritte. Wichtig wäre es zum Beispiel, in Zukunft mit Blick auf die Solidarität der EU-Länder nach außen, Programme zur Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Drittländern in der Europäischen Union zu schaffen. Dies gibt es nur in Ansätzen. In den USA, Australien, Kanada beispielsweise in größerem Maße. Hier wäre die EU gefordert, mehr zu tun.

EU-Kommissionssprecher Johannes Leitenberger hat zum Beispiel im Frühjahr gemeint, die Politik der Kommission sei es, Solidarität zu organisieren. Haben Sie den Eindruck, dass das gelingen kann?

Flüchtlinge in einem Thunfisch-Netz vor Malta(Foto: AP)
Flüchtlinge in einem Thunfisch-Netz vor MaltaBild: AP

Man muss sich die Situation gerade in den EU-Außenstaaten angucken - die stehen jetzt vor einer besonderen Herausforderung. Ich denke hier vor allen Dingen an Malta, das in Relation zu der eigenen Bevölkerung sehr viele Asylsucher aufgenommen hat. Es gibt bereits Bemühungen anderer Staaten, Malta hier entsprechend zu entlasten, die Verantwortung zu teilen. Es gibt andere Staaten, die durchaus in der Lage sind, mit einem entsprechend funktionierenden Asylsystem, die Zahl der Asylsuchenden zu bewältigen und vor allen Dingen eben auch jenen Schutz zu gewähren, die Schutz verdienen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Zahl der Asylbewerber in der gesamten EU weitaus geringer ist als in den 1990er Jahren. Damals gab es in der EU 750.000 Asylbewerber. Derzeit liegen die Zahlen bei knapp über 200.000. Es gibt Krisensituationen, die man analysieren muss, aber insgesamt ist die Europäische Union sicherlich nicht damit überlastet, jenen Menschen Schutz zu gewähren, die Schutz brauchen. Das sind sehr viele und eben auch sehr viele, die als Bootsflüchtlinge versuchen, in die EU zu gelangen.


Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) schützt und unterstützt Flüchtlinge auf der ganzen Welt. UNHCR wurde 1951 von der UN-Generalversammlung gegründet, um Millionen von europäischen Flüchtlingen in der Folge des Zweiten Weltkrieges zu helfen. Heute ist UNHCR eine weltweit tätige Organisation mit Büros in über 100 Ländern, mehr als 6500 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über einer Milliarde US-Dollar.

Das Interview führte Jörg Brunsmann.
Redaktion: Nicole Scherschun