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Wieviel Sprache brauchen wir?

13. September 2010

Der Mensch ist ein sprechendes Wesen. Dennoch scheint die Sprache auf dem Rückzug. Der Germanist Wolfgang Frühwald untersucht, wie viel Sprache wir in einer zunehmend komplexer werdenden Welt brauchen.

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Eine Frau schreibt SMS über ihr Handy (Foto: picture-alliance/KPA)
Moderne Kommunikation...Bild: picture-alliance / KPA

Sprache verliert an Bedeutung, diagnostiziert Wolfgang Frühwald im Vorwort seines Essaybandes "Wieviel Sprache brauchen wir?". Statt zu lesen sehen wir fern oder spielen Computerspiele. Statt Briefe zu schreiben verschicken wir SMS mit dem Handy oder versenden Kurznachrichten über Twitter. Filme sehen wir nicht mehr in der Originalsprache, sondern in der übersetzten Version.

Mit fatalen Folgen: Untersuchungen belegen, dass Kinder in Skandinavien oder den Niederlanden besser Englisch sprechen und besser lesen können als Kinder in Deutschland, weil dort – anders als bei uns - im Fernsehen englischsprachige Filme nur in der Originalsprache mit Untertiteln zu sehen sind. Dabei ist es immer wichtiger Englisch zu können. Denn international ist das schon lange die Verkehrssprache. Aber, schränkt Frühwald ein, das sogenannte "Broken English", das auf Kongressen und internationalen Flughäfen gesprochen wird, hat mit der Sprache Shakespeares oder Hemingways soviel zu tun wie eine SMS mit einer Kurzgeschichte.

Der Mensch, das sprechende Tier

Demgegenüber steht die alte Erkenntnis, dass der Mensch wesentlich geprägt ist durch Sprache. Schon der antike Philosoph Aristoteles hat den Menschen als "zoon logon echon" gekennzeichnet, als Sprache habendes Tier. In der Evolutionsgeschichte gilt die Sprache als Indikator für die Menschwerdung des Menschen. Gemeint ist zunächst die gesprochene Sprache. Zu ihr gehören auch Sprachmelodie, Mimik und Gestik. Tatsächlich transportieren diese drei nonverbalen Ebenen fast den größten Teil der Informationen. In einem Gespräch werden nur sieben Prozent an Informationen über Inhalt und Bedeutung der Sprache transportiert. Dagegen 38 Prozent über die Sprachmelodie und 55 Prozent über Mimik und Gestik.

Wolfgang Frühwald (Foto: Sören Stache dpa/zb)
Wolfgang FrühwaldBild: picture-alliance/ZB

Vor diesem Hintergrund ist der Informationsgehalt einer SMS verschwindend gering. Auf der einen Seite erklärt sich so der Versuch, mit Hilfe von Icons und Ähnlichem eine Art zweiter Ebene in die Kurznachrichten mit einzubeziehen, wenn wir zum Beispiel andeuten wollen, dass eine Bemerkung ironisch gemeint ist. Auf der anderen Seite aber bekommt Frühwalds Frage wie viel Sprache wir brauchen, angesichts der zunehmenden Flut von Kurznachrichten eine fast beklemmende Aktualität. Laut Bundesnetzagentur wurden 2007 allein in Deutschland über 22 Milliarden SMS verschickt. Tendenz steigend.

Sprache erschafft Welt

Buchcover 'Wieviel Sprache brauchen wir?' (Foto: BUP)
Bild: BUB

Frühwalds Buch gliedert sich in drei Abteilungen. Unter der Überschrift "Sprachkritik, Satire und Polemik" hat er Essays über französische und englische Sprachmoden oder das Deutsche als Wissenschaftssprache versammelt. Abteilung II, "Redner, Erzähler, Leser" bringt Essays über Gottsched, Alexander von Humboldt und schließlich über das Abenteuer des Lesens. Teil III "Literatursprache" befasst sich mit Schiller und Eichendorff.

Die einzelnen Texte sind durchaus unterschiedlich, da sie sich an verschiedene Adressaten wenden. Ihnen gemeinsam allerdings ist ein starkes Plädoyer, dass der Mensch sich als Sprachtier sprechend seine eigene Welt schafft. Frühwald gelingt es immer wieder, deutlich zu machen, wie stark wir durch Sprache in die Welt eingreifen. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in dem Text "Vom Abenteuer des Lesens". Dort erzählt Frühwald, wie Figuren der Literatur, also erfundene Menschen, die Geschichte wirklicher Menschen bestimmt haben: Abraham, Odysseus, Romeo und Julia, Werther. Wer heute zum Beispiel nach Verona kommt, kann dort Julias Wohnung oder die Kirche, in der Romeo und Julia geheiratet haben besichtigen. Sogar Julias Grab kann man besuchen. Dabei hat das wohl berühmteste Liebespaar der Weltgeschichte nie gelebt. Man spürt, dass Frühwald ein begeisterter Leser ist. Seine Belesenheit und seine Fähigkeit, auch komplexe Zusammenhänge klar und anschaulich zu schildern, macht die Lektüre von "Wieviel Sprache brauchen wir?" auch für Nicht-Germanisten zu einem wirklichen Vergnügen. Das Buch ist eine schöne Einladung wieder einmal einen Brief zu schreiben oder, statt eine SMS zu schicken, den Abend mit Freunden zu erzählen.

Autor: Udo Marquardt
Redaktion: Gabriela Schaaf

Wolfgang Frühwald: "Wieviel Sprache brauchen wir? Berlin University Press 2010, 238 Seiten.