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Musical-Revue von deutschen Gefangenen wiederaufgeführt

15. Mai 2017

Im Zweiten Weltkrieg inhaftierten Briten wahllos Deutsche - dabei waren viele vor den Nazis nach England geflohen. Auf der Isle of Man vertrösteten Konzerte und eine selbst-initiierte "Lager-Universität" die Gefangenen.

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Tenor Norbert Meyn
"What a Life!" erzählt vom Gefangenenleben deutscher Inhaftierten auf der Isle of Man während des Zweiten WeltkriegesBild: Yiannis Katsaris

Als Paul Humpoletz 1940 in London geboren wurde, saß sein österreichischer Vater rund 460 Kilometer entfernt hinter Stacheldraht auf der Isle of Man inmitten der Irischen See. Er war einer von 27.000 Deutschen, Österreichern und Italienern, die von der britischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte "feindliche Ausländer" ("enemy aliens") gefangen genommen und in Lager über ganz Großbritannien verteilt wurden - das größte befand sich auf der Isle of Man.

Für Paul Humpoletz Senior und rund 1200 weitere deutsche und österreichische Inhaftierte im Hutchinson Camp in Douglas, der Hauptstadt der Insel, bedeutete die Gefangenschaft vor allem schwierige Lebensbedingungen, Entbehrungen und Desillusion - aber auch künstlerische und intellektuelle Aktivität: Das Lagerleben steht für ein einzigartiges kulturelles Erbe.

Paul Humpoletz Senior (Foto: Paul Humpoletz Jr.)
Paul Humpoletz Senior war ein Jahr lang auf der Isle of Man inhaftiertBild: Paul Humpoletz Jr.

Massenverhaftungen

Das Kammermusikensemble "Ensemble Émigré" bringt dieses Erbe jetzt wieder zum Leben und führt die Kompositionen von deutschen und österreichischen Auswanderern auf. "Bei Kriegsbeginn war die öffentliche Meinung sehr stark gegen die Deutschen gerichtet", erzählt Norbert Meyn, Gründer des "Ensemble Émigré", im DW-Interview. "Es gab dieses grundsätzliche Misstrauen." Dabei hatte Großbritannien bereits vor Kriegsausbruch deutsche Flüchtlinge aufgenommen. Doch als Großbritannien Deutschland am 3. September 1939 den Krieg erklärte, war von der britischen Willkommenskultur nichts mehr zu spüren. Plötzlich wurden aus rund 70.000 Deutschen und Österreichern, von denen viele schon mehrere Jahre in Großbritannien lebten, "feindliche Ausländer".

Ein Sondertribunal begutachtete damals die Einzelfälle, um festzustellen, ob die Person ein Sicherheitsrisiko darstellte. Anfangs wurden kaum 600 Leute inhaftiert, doch die Situation änderte sich, als die Nationalsozialisten im Frühjahr 1940 Belgien und Frankreich einnahmen. So wurden ausländische Staatsbürger zunehmend unter Generalverdacht gestellt. Als dann auch noch Italien am 10. Juni 1940 Großbritannien den Krieg erklärte, erließ Premierminister Winston Churchill den berüchtigten Kabinettsbeschluss "Collar the lot!": flächendeckende Massenfestnahmen nicht nur von Italienern, sondern auch von noch nicht-inhaftierten Deutschen und Österreichern.

Vom Flüchtling zum Verdächtigten

Der Journalist Peter Gillman, der gemeinsam mit seiner Frau Leni ein Buch über den umstrittenen Beschluss verfasste, bezeichnete die Internierungen während des Zweiten Weltkrieges als eine "Paranoia gegenüber Flüchtlingen". Dass die Massenverhaftungen stillschweigend hingenommen wurden, sei allerdings "verständlich". Gegenüber der DW sagte er: "Großbritannien stand im Kampf gegen Deutschland alleine da - unter Attacke der Luftwaffe und der steten Angst vor Invasion."

Isle of Man, Stadtansicht Douglas mit Hafen (Foto: Imago/United Archives International)
Hafen von Douglas auf der Isle of Man. Die Insel liegt zwischen Großbritannien und IrlandBild: Imago/United Archives International

Auf tragische Weise bedeutete dies, dass diejenigen, die vor den Lagern der Nationalsozialisten geflohen waren, sich nun hinter britischem Stacheldraht wiederfanden. Paul Humpoletzs Vater war einer von ihnen. Doch wie konnte es sein, dass ein bekannter Cartoonist, dessen Zeichnungen klar gegen die Nazis Stellung bezogen, der in Deutschland sogar gefangen genommen wurde und nach Großbritannien fliehen konnte, plötzlich als britischer Staatsfeind eingestuft wurde? "Sie haben einfach alle eingesammelt. Es spielte keine Rolle, wer sie waren oder was sie gemacht hatten", sagt Humpoletz Junior.

Die Lager-Universität

Das Hutchinson Camp war ein Ort der Kontraste. Die Gefangenen schliefen zu zweit in einem Bett – manchmal teilten sich ein Nazi und ein jüdischer Flüchtling eine Matratze. Die Häftlinge waren in ehemaligen Pensionen der Insel untergebracht, die ursprünglich einmal Urlauber beherbergten. Humpoletz Senior soll Isle of Man als einen Ort voller Stacheldraht beschrieben haben. Es soll von Soldaten nur so gewimmelt haben, die die Gefangenen geschlagen und beklaut hätten.

Programmheft "What a Life!"
Programmheft "What a Life!", gestaltet von Humpoletz SeniorBild: Paul Humpoletz Jr.

Kein Wunder, dass die Inhaftierten bald "vom britischen Tommy desillusioniert waren, den sie so lange bewundert hatten", sagt Sohn Humpoletz. Trost und Hoffnung fanden sie in dem reichen intellektuellen und künstlerischen Leben, das sie selbst im Camp gestalteten. "Legenden nach soll es eine 'Lager-Universität' gegeben haben", sagt Norbert Meyn. So sollen tägliche Vorlesungen stattgefunden haben, von Shakespeare über Byzantinische Musik bis hin zu griechischem Theater - alles angeboten von den Gefangenen selbst. Ein inhaftierter Komponist soll sogar gesagt haben, dass er nie wieder so viele Konzerte gegeben hat wie damals in Hutchinson.

"Was für ein Leben!"

Norbert Meyn bringt die Geschichten der inhaftierten Künstler der Isle of Man wieder ins Bewusstsein. Am 16. und 17. Mai wird das "Ensemble Émigré" die Musical-Revue "What a Life!" in Port Erin und in Douglas wiederaufführen - das Kammermusikstück wird dann erstmalig nach der Premiere 1940 wieder auf der Insel zu hören sein. Die deutsch-englische Musical-Revue erzählt die Geschichte von inhaftierten deutschen Flüchtlingen.

"Sie schufen etwas, dass künstlerisch sehr speziell, aber auch humorvoll war. Und dass ihre Gefühle zum Ausdruck brachte", sagt Meyn. "Diese Musik ist ein Fenster zu menschlichen Erfahrungen, die ansonsten sehr schwer zugänglich und zu verstehen sind", fügt er hinzu. Der gebürtige Deutsche, der selbst auch viele Jahre in Großbritannien lebte, ist überzeugt, das Beispiel der Revue-Show zeige, wie Migration dazu beitragen kann, Kultur zu bereichern.

Kunst zur Rettung der Seele

Humpoletzs Vater entwarf für die scharfsinnige, aber auch traurige Revue-Premiere das Programmheft: Es zeigt einen Mann, der eine Stacheldraht-Leier spielt, während er auf einer Haferbrei-Box sitzt, das damalige Hauptnahrungsmittel in Hutchinson. Der Sohn ist sich sicher, dass die Beteiligung am Bühnenbild und den Postern seinem Vater das Lagerleben erträglicher gemacht habe. "Er fand das sehr belebend und die künstlerische Arbeit kompensierte die Entbehrungen", so Humpoletz Junior. Dennoch sprach sein Vater sehr selten und zurückhaltend über seine Zeit in Hutchinson. "Man musste es aus ihm herausquetschen."

Magazincover von der britischen Zeitschrift "The Leader" (Foto: Paul Humpoletz Jr.)
Magagzin-Cover für "The Leader", unterschrieben mit umgedrehten Initialien "H. Paul"Bild: Paul Humpoletz Jr.

Humpoletz Senior wurde im Februar 1941 freigelassen und arbeitete anschließend unter anderem für das populäre Magazin "The Leader" als Cover-Gestalter. Auch andere Mitgefangene konnten später in der britischen Kreativszene Fuß fassen, ungeachtet den anhaltenden Verdächtigungen gegenüber dem einstigen Feind, die auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch andauerten: "Ich wurde sogar der Grundschule verwiesen, weil ich einen ausländischen Namen hatte", erzählt Humpoletz Junior. Und so signierte auch Humpoletz Senior seine Illustrationen mit "H. Paul", um weniger ausländisch zu wirken.

Der Journalist Gillman gibt zu, dass er - Jahrgang 1942 - mit einer "Abneigung gegenüber Deutschland aufgewachsen ist, die sich nun völlig gewendet hat". Allerdings spüre er heute leider wieder diese Angst vor dem "Anderen". "Wir müssen hoffen, dass Anstand, Generosität und Selbstlosigkeit, die dem britischen Charakter immanent sind, letztlich doch siegen", sagt Gillman. Humpoletz' Vater zog letztendlich in die Schweiz und später nach Wien, wo er 1972 starb. Trotz seiner Inhaftierung sprach er immer warmherzig über Großbritannien und die Zeit, die er dort verlebte. "Sie haben ihm Asyl gewährt", erklärt sein Sohn und fügt hinzu, sein Vater habe stets das "kulturelle Leben und die liberale Einstellung der Briten geschätzt".

Als Brite empfindet Humpoletz Junior die Abwendung Großbritanniens von der europäischen Kultur und der EU entmutigend. Er denkt, wie auch sein Vater, dass das Land einen "wichtigen Beitrag leisten könnte". Nichtsdestotrotz wird auch heute die Kunst von Paul Humpoletz Senior und seinen Mitgefangenen weiterhin eine Brücke über den Ärmelkanal schlagen.