Wie russische Deserteure in Frankreich Zuflucht finden
1. November 2024"Deserteure sind keine Verräter, und Desertion ist kein Verbrechen, weil es in dieser Situation keinen anderen Ausweg gibt", sagt Alexander im Gespräch mit der DW. Er betont, es sei "eine vernünftige Entscheidung eines gut erzogenen Menschen, sich nicht an einem Angriffskrieg zu beteiligen".
Alexander ist einer von sechs russischen Deserteuren, die in den vergangenen Monaten in Paris angekommen sind. Sie waren 2022 und 2023 zunächst aus Russland nach Kasachstan und dann nach Frankreich geflohen. Dort hoffen sie nun auf politisches Asyl.
Der deutsche Verein Pro Asyl schätzt, dass seit Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine im Februar 2022 bis zum September 2023 mindestens 250.000 Militärdienstpflichtige Russland verlassen und Schutz in anderen Ländern gesucht haben.
Dazu gehören vor allem Kasachstan, Georgien, Armenien, die Türkei, Serbien oder Israel. Aus Kasachstan und Armenien seien Abschiebungen nach Russland bekannt geworden.
Laut Pro Asyl fliehen nur wenige russische Militärs in die Länder des Schengen-Raums, was mit fehlenden Fluchtwegen und der sehr restriktiven Visavergabe der EU-Länder zu tun hat.
Präzedenzfall innerhalb der EU
Frankreich hat nun als erster EU-Staat russische Militärs, die Gegner des Ukraine-Krieges sind, ohne Reisepass ins Land gelassen. Um Bedenken auszuräumen, wurden die Männer zuvor noch in Kasachstan überprüft.
"Ich verstehe die Bedenken westlicher Länder, warum sie nicht massiv Reisedokumente an Deserteure verteilen, denn es könnten sich unter ihnen Agenten des russischen Geheimdienstes FBS oder Kriegsverbrecher befinden", sagt Alexander. Daher wird die Flucht und Weiterreise solcher Männer überwacht.
"Wir haben die Geschichten aller sechs Deserteure geprüft", versichert Alexej Alschanskij von der russischen Analysegruppe Conflict Intelligence Team (CIT) der DW. Die Gruppe musste 2022 selbst Russland verlassen.
Alschanskij, ebenfalls ehemaliger Angehöriger des russischen Militär, half den Deserteuren, nach Frankreich zu kommen. "Irgendwann nahmen wir Kontakt zu Menschenrechtlern in der EU auf, und dann begann die Advocacy-Arbeit, die ein Jahr dauerte. Die ganze Zeit über waren die Deserteure in Kasachstan", so Alschanskij.
Flucht aus der russischen Armee
Von den sechs Männern war nur der junge Offizier Alexander direkt am russischen Einmarsch in die Ukraine beteiligt. Im Winter 2022 befand er sich auf der von Russland annektierten Krim. Zunächst habe alles so ausgesehen, als handele es sich um eine Militärübung, erklärt er. Doch am 24. Februar 2022 seien alle Soldaten aufgereiht und in einer Kolonne losgeschickt worden.
"Es gab keinen Befehl zum Angriff auf die Ukraine, keine Anweisungen, wir überquerten einfach die ukrainische Grenze, und erst dann wurde uns klar, was los ist. Ich war schockiert und wusste nicht, warum wir in der Ukraine sind", erzählt Alexander.
Er betont, er habe an dem Einsatz nicht teilnehmen wollen. Aber ihm sei klar gewesen, dass er nicht einfach zurücklaufen konnte. "Entweder hätten mich meine eigenen Leute erschossen, oder man hätte mich an der Grenze festgenommen. Ich brauchte einen legalen Weg zurück nach Russland", so der Deserteur.
Als er endlich Urlaub bekam, beantragte er nach seiner Ankunft in Russland sofort seine Entlassung aus der Armee. Aber im September 2022 wurde eine Mobilmachung angeordnet. "Da ist mir klar geworden: Entweder muss ich ins Gefängnis oder zurück an die Front - oder ich fliehe aus Russland", sagt Alexander.
Kasachstan als Zwischenstation
Eines der wenigen Länder, in das Russen auch ohne Reisepass einreisen dürfen, ist Kasachstan. Daher haben dort viele Männer Zuflucht gesucht, so auch Alexander. Nach seiner Ankunft nahm er dort über Bekannte Kontakt zu Menschenrechtlern auf und beantragte Asyl.
"Ich wusste, dass es schwierig sein wird, in Kasachstan Schutz zu finden, da Kasachstan immer noch gewissermaßen von Russland abhängig ist", sagt der Deserteur und fügt hinzu: "Mir wurde zwar kein Flüchtlingsstatus zuerkannt, aber zumindest wurde mein legaler Aufenthalt verlängert."
Gleichzeitig klopfte er bei westlichen Botschaften an und bat um Hilfe. "Ich wusste, dass ich dort keinen Asylantrag stellen konnte, sondern dass ich dies nur auf dem Territorium des Landes tun kann", sagt Alexander.
Nach zwei Jahren konnte er schließlich nach Frankreich ausreisen. "Wir erhielten die Einreiseerlaubnis, weil wir aktiv gegen den Krieg eintreten, nicht, weil wir Deserteure sind", unterstreicht er.
Keine Indizien für Kriegsverbrechen
"Seine Beteiligung an der Invasion war einfach Schicksal", sagt Alschanskij vom CIT über Alexander. Er fügt hinzu, dass man allerdings nicht absolut sicher sein könne, dass die Geschichte stimme. Andererseits gebe es keine Indizien dafür, dass Alexander Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen haben könnte. "Daher sollte er humanitären Schutz bekommen, und es ist ein großes Glück, dass er ihn erhalten hat", so der CIT-Experte.
Ihm ist klar, dass dies bei Ukrainern auf Unverständnis stößt. Für Menschen dort "mag es schwierig sein, die Situation von der anderen Seite zu sehen, und zu erkennen, dass nicht alle russischen Soldaten in der Ukraine kämpfen wollen", sagt er. Viele Soldaten hätten während der Invasion selbst versucht, zu überleben.
Alschanskij weist darauf hin, dass gemäß völkerrechtlicher Bestimmungen eine Person durch ihre bloße Teilnahme am Krieg nicht automatisch ein Kriegsverbrecher ist. "Das humanitäre Recht garantiert im Kontext eines bewaffneten Konflikts allen Personen Schutz, die nicht an Kriegsverbrechen beteiligt sind", so Alschanskij.
Kritik an russischer Zivilgesellschaft
Laut CIT steigt seit Beginn des Krieges die Zahl russischer Deserteure. Es sei ein großer Teil der Bevölkerung, der von der Gesellschaft keine Unterstützung bekomme, obwohl Desertion, wie Alschanskij sagt, "ein wirklich mutiger Schritt" ist.
"Wenn jemand mit einem Plakat 'Nein zum Krieg!' zu einer Antikriegsdemo geht und deswegen mehrere Tage hinter Gittern verbringt, wird er als Held betrachtet. Solche Personen können ein Auslandsvisum erhalten, für sie gibt es internationale Programme", erklärt er. "Aber wenn jemand aus Russland flieht, der wochenlang in einer Grube saß, ausgehungert ist und geschlagen wurde, weil er sich weigerte, an Putins Krieg teilzunehmen, dann steht er allein da", beklagt Alschanskij.
"Adieu, Waffen"
Solchen Männern würden meist nur ausländische Menschenrechtsorganisationen helfen. "Die russische Zivilgesellschaft ist nicht geneigt, Deserteuren zu helfen. Sie ist wie gelähmt, wenn sie über eine Person erfährt, dass sie aus der russischen Armee geflohen ist. Diese Haltung ist, gelinde gesagt, ungerecht", findet Alschanskij.
Inzwischen sind die sechs Russen auch in Frankreich aktiv und unterstützen von dort russische Deserteure. Sie haben sich in einem Verein mit dem Namen "Adieu, Waffen!" organisiert und protestieren so auf ihre Weise gegen den Krieg in der Ukraine.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk