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Politik

Wie "Mochoman" den Bürgerkrieg besiegte

21. Dezember 2020

2016 endete in Kolumbien ein Bürgerkrieg, der mehr als 50 Jahre wütete. Juan José Florian war eines seiner Opfer - und erfindet sich als Radsportler neu.

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Kolumbien: Der Radfahrer Juan José Florian
Ihm fehlen zwei Arme und ein Bein, aber er hat die Paralympischen Spiele 2021 in Tokio fest im Blick: Juan José FlorianBild: Movistar Colombia

Am 12. November 2011 versucht Präsident Juan Manuel Santos noch, den bewaffneten Konflikt in Kolumbien beizulegen, ein Friedensvertrag liegt in weiter Ferne. An diesem Tag endet das alte Leben von Juan José Florian und das neue von "Mochoman" beginnt. Der junge Kolumbianer ist zu Besuch bei seiner Mutter und will eigentlich nur ein paar Hamburger kaufen, als er vor dem Haus ein kleines Päckchen entdeckt.

Florian bückt sich und hebt das Paket auf. Dann explodiert die Bombe - die Rache der FARC dafür, dass Florians Mutter das Schutzgeld nicht zahlen wollte, das die Guerilla allen abpresst. Ein Teil des Hauses fliegt in die Luft. Der Kolumbianer brennt bei lebendigem Leib, verliert beide Arme, ein Bein und ein Auge, kann seitdem auch kaum noch hören. Florian fleht seinen Bruder inständig an, das Gewehr zu holen und ihm in den Kopf zu schießen.

Sein Ziel: Gold bei den Paralympics 2021

"Zum Glück hat er es nicht getan", sagt der 38-Jährige heute. Diese Bombe ist für ihn, so seltsam es klinge, "ein Geschenk des Lebens und meine zweite Geburt". Trotz zwölf Tagen im Koma, trotz mehrerer Operationen und trotz der langen Zeit der Rehabilitation und des Traumas, das er verarbeiten musste. Denn heute, neun Jahre später, kennt ganz Kolumbien Florian nur als "Mochoman". Als den Mann, der alles dafür tut, bei den Paralympics 2021 in Tokio Gold im Radsport zu holen.

Kolumbien Der Radfahrer Juan José Florian
"Mein Traum als Kind war eigentlich nie, Sportler zu werden. Ich wollte immer ein Soldat sein" - Juan José FlorianBild: Movistar Colombia

"Weil ich nur noch ein Bein habe, hatte ich irgendwann den Spitznamen 'Viertelhähnchen' weg. Mit dem bisschen Körper, der mir geblieben ist, sehe ich ja wirklich so aus", sagt Juan José Florian, der Selbstironie zu seiner Waffe gemacht hat. "Und als es dann mit dem Radfahren losging, sagte ich, wir haben die Helden Superman und Ironman, warum bin ich dann nicht Mochoman?" In Kolumbien werden Menschen mit Amputationen als "mochos" bezeichnet.

Brüchiger Frieden in Kolumbien

"Mochomans" Geschichte steht symbolisch für viele Kolumbianer, und wer sie verstehen will, muss die Historie seiner Heimat kennen. Mehr als 200.000 Menschen sterben in dem über 50 Jahre dauernden Konflikt zwischen Regierungssoldaten, Paramilitärs und Guerilla, die meisten von ihnen Zivilisten. Jahrzehnte lang ist Kolumbien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen der Welt.

Im Juni 2016 unterschreiben die kolumbianische Regierung und die FARC-Guerilla in Havanna feierlich den Friedensvertrag, der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos erhält später dafür den Friedensnobelpreis. Vier Jahre später ist das Pflänzchen des Friedens äußerst zart: Andere bewaffnete Gruppen sind in das Vakuum gestoßen, das die FARC hinterlassen hat. Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und ehemalige Guerrilleros werden zu Dutzenden ermordet, für die neue rechte Regierung von Präsident Iván Duque hat der Friedensprozess keine Priorität.

Kuba: Raul Castro, Juan Manuel Santos und FARC-Rebellenführer Rodrigo Londono in Havanna
Kolumbiens Präsident Santos, sein Amtskollege Raúl Castro aus Kuba und FARC-Rebellenführer Londoño in HavannaBild: picture-alliance/dpa/EPA/A. Ernesto

Erst Guerillero bei der FARC, dann Soldat 

"Ich bin der lebende Beweis dafür, dass es auch ein anderes Kolumbien gibt. Mein Beispiel soll zeigen, dass Frieden, Vergebung und Versöhnung möglich sind", sagt Florian.

Er selber war Teil dieses Krieges. Er war noch ein Jugendlicher, als die Guerilla an seinem Haus anklopfte und ihn als einen von 6000 minderjährigen Kämpfern mit in den Dschungel nahm. Weil Florians älterer Bruder beim Militär war, so argumentierte die Guerilla, gehöre der jüngere Sohn der Revolution.

Kämpfer der FARC
Die FARC-Guerilleros legten 2016 ihre Waffen nieder - ihre Re-Integration in die Gesellschaft bleibt schwierigBild: picture-alliance/dpa

"Sie haben mir meine Jugend geraubt. Ich konnte nicht bei meiner Familie sein und auch keinen Schulabschluss machen", berichtet Florian. "Und auch meine Familie lebte in großer Gefahr. Wenn die rechten Paramilitärs erfahren hätten, dass einer ihrer Söhne bei der FARC ist, hätten sie nicht geglaubt, dass ich nicht freiwillig gegangen bin."

Nach neun Monaten bei der FARC und 300 Kilometer entfernt von seinem Zuhause gelang ihm die Flucht. Florian wechselte die Seiten, verpflichtete sich mit 18 Jahren beim Militär. Schon als Kind träumte er davon, Soldat zu sein. Er steckte mittendrin im kolumbianischen Bürgerkrieg, half der Regierung, Land zurückzuerobern. Doch dann kommt die Bombe - und Juan José Florian springt dem Tod von der Schippe geradeaus in ein neues Leben.

Vom Schwimmbecken aufs Rad

"Meine Familie und meine Frau waren immer da, sie haben mir geholfen, im Leben wieder einen Sinn zu sehen, mir Ziele zu setzen", erzählt er - und findet sie im Sport. Schwimmen wird seine neue Obsession und Therapie. Es ist, als ob das Wasser ihm hilft, alle Wunden des Bürgerkrieges auszuwaschen. Florian sammelt zwölf Goldmedaillen in nationalen und internationalen Wettkämpfen, Schmetterling ist seine Paradedisziplin.

Auch außerhalb des Beckens kämpft sich der Kolumbianer zurück ins Leben, fängt an, Psychologie zu studieren. Weil ihn Lesen furchtbar anstrengt, muss er manche Texte vier, fünf Mal durchackern. Und besteht trotzdem das Vordiplom. Aber Juan José Florian will mehr, peilt das größte sportliche Ziel an. Und das scheint ihm auf dem Rad eher möglich als beim Schwimmen: die Paralympischen Spiele.

Kolumbien Der Radfahrer Juan José Florian
"Ich arbeite hart für eine Medaille. Ich will aufs Podium" - Juan José FlorianBild: Movistar Colombia

Ingenieure der Luftwaffe konzipieren 2017 eigens für Florian ein Rad aus Kohlefasern, mit speziellen Halterungen für seine Stümpfe. Der Kolumbianer schaltet mit dem Mund und bremst mit dem Oberschenkel. Er tritt in der Kategorie C1 mit den meisten Einschränkungen an, in die weltweit nur 17 paralympische Radfahrer einsortiert sind, Florian als einziger Kolumbianer.

Florian: Hoffnungsträger für den Friedensprozess

"Ich bin nicht mehr hier, um über irgendetwas hinwegzukommen, sondern um Medaillen für mein Land zu gewinnen", betont er. Dazu gehören vier bis Stunden Training auf dem Rad pro Tag, plus Schwimmen und Krafttraining. Tokio, August 2021, in das große Ziel. Für das Telekommunikationsunternehmen Movistar in Kolumbien, das ihn seit zwei Jahren sponsert, ist der von den Verheerungen des Bürgerkriegs Wiederauferstandene die perfekte Werbefigur.

Eine Medaille in Japan im nächsten Jahr würde perfekt zusammenpassen mit den Feierlichkeiten in Kolumbien fünf Jahre nach Abschluss des Friedensvertrages. Juan José Florian ist zuversichtlich, dass sein Sieg genauso gelingen kann wie eine langsame Versöhnung. "Das halbe Jahrhundert Bürgerkrieg hat tiefe Wunden und viel Hass hinterlassen. Aber die Menschen verlieren den Groll, wenn sie meine Geschichte hören - die inspiriert sie, ihr Denken zu ändern."