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Wie mit dem Öl der Wilde Westen in die Heide kam

Astrid Benölken | Ashutosh Pandey Wietze
21. April 2022

Deutschland versucht, unabhängig von russischem Öl und Gas zu werden. Welche Rolle können unsere eigenen Ressourcen dabei spielen? Spurensuche in einem Dorf, in dem zufällig die deutsche Erdölindustrie geboren wurde.

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Deustchland, Wietze | Deutsches Erdölmuseum in Wietze bei Celle
Bild: Astrid Benölken/DW

An vielen Stellen ist Gras über die Vergangenheit gewachsen, wortwörtlich. Museumsleiter Stephan Lütgert schabt mit dem Schuh einen Flecken Grün zur Seite und ein metallenes Rohr kommt zum Vorschein, ein paar Schritte weiter überwuchert das Gras einen Haufen Ölsand, der zu einer schwarz-teerigen Asphaltdecke zusammengeschmolzen ist. "Unser Museum steht mitten auf den Resten eines Ölfelds", sagt Lütgert stolz.

Wer das Deutsche Erdölmuseum besucht, findet zwischen Pferdekopfpumpen und verlassenen Bohrtürmen allerdings nicht nur die Spuren eines Ölfelds - sondern entdeckt bei genauem Hinsehen, dass er sich am Geburtsort der deutschen Erdölindustrie befindet. Ausgerechnet hier, im ansonsten recht unscheinbaren Dorf Wietze im Süden der Lüneburger Heide, erzählt Museumsleiter Lütgert, fand 1858/59 die weltweit erste Erdölbohrung statt - sogar noch bevor in den USA nach Öl gegraben wurde. Später bescherte das schwarze Gold dem kleinen Heidedorf eine mittelschwere Ölmanie. 

Heute importiert Deutschland etwa 70 Prozent seiner Energie. Bei Erdöl deckt die eigene Produktion gerade einmal zwei, bei Erdgas sechs Prozent des Bedarfs. Die Förderfelder sind zunehmend erschöpft, neue Felder werden kaum noch erschlossen. Das war früher einmal anders. Zu seiner Hochzeit steuerte Wietze 80 Prozent zur inländischen Ölproduktion bei. Während Deutschland nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine mit seiner Energie-Abhängigkeit ringt, mit Gas- und Öl-Lieferungen, die nun einen Krieg mitfinanzieren, erinnert das Museum an Zeiten, in denen Deutschland zwar nicht unabhängig von Energieimporten war, aber beim Öl sehr viel selbstbewusster dastand. 

Stephan Lütgert, Leiter des Deutschen Erdölmuseums.
Stephan Lütgert, Leiter des Deutschen Erdölmuseums.Bild: Astrid Benölken

Seit der russischen Invasion reduziert Deutschland seinen Verbrauch von russischem Öl und Gas. Statt ein Drittel seines Öls bezieht Deutschland inzwischen nur noch ein Viertel aus Russland. Wenn Deutschland noch mehr Öl aus anderen Ländern importiert, wäre schon bis zum Ende des Jahres eine vollständige Abkehr von russischem Öl möglich, glaubt die Bundesregierung. Deutlich schwerer fällt es Deutschland, sich von russischem Gas zu lösen. Zwar bezieht Deutschland nur noch 40 Prozent seines Gases aus Russland statt wie vor dem Krieg 55 Prozent. Doch eine komplette Abkehr, glaubt die Bundesregierung, ist erst im Sommer 2024 möglich - und das auch nur, wenn weniger Energie verbraucht wird. 

Aber gäbe es nicht einen viel einfacheren Weg raus aus der Energiemisere: Die Förderung von mehr eigenem Gas und Erdöl in Deutschland? So, wie es in Wietze einmal der Fall war? Ein Blick in den Mikrokosmos Wietze zeigt, was der Energiehunger mit so einem Dorf macht.

Infografik Karte Wietze

Wietze: Ein Dorf im Öl-Fieber 

Es fängt ganz unspektakulär an: Seine Begeisterung hält sich in Grenzen, als Konrad Hunäus bei seiner Probebohrung 1858 in der Lüneburger Heide auf Öl stößt - Hunäus hatte eher auf Kohle gehofft. Öl wird zu diesem Zeitpunkt als Wagenschmiere benutzt, als Arzneimittel - an Wert gewann es erst später, als Petroleum in Lampen und Brennstoff für Motoren. Als dann aber vier Jahrzehnte später wieder eine Bohrung in Wietze auf Öl stößt, passt der Zeitpunkt - ein Ölrausch erfasst das Dorf.

Deustchland, Wietze | Deutsches Erdölmuseum in Wietze bei Celle
Alte Ansichtskarte von den Pumpgestängen in Wietze bei Celle.Bild: Deutsches Erdölmuseum

Museumleiter Lütgert erklimmt einen metallenen Bohrturm am Rande des Museums und deutet mit einer ausschweifenden Geste auf die Heidewiesen vor ihm und die Bauerngehöfte in der Ferne. "Hier standen früher überall die Bohrtürme", sagt er. Innerhalb kürzester Zeit sprießen in Wietze nach dem Fund Verwaltungsgebäude aus dem Boden, Direktorenvillen, ein Bahnhof, eine Raffinerie. Bald überzieht die Heidewiesen ein Geflecht aus Pumpen, Rohren und mehr als 2000 Bohrlöchern; ein Netz aus Kilometern neuverlegter Bahnschienen zerfurcht die Landschaft. Es sind die Dehnungsstreifen einer Stadt, die mit ihrem eigenen Wachstum kaum mithalten kann. 

Es ist die Zeit, in der in das Heidedorf der "Wilde Westen" einbricht, wie Museumsleiter Lütgert es nennt. Mit dem Öl kommen die Fremden. Zwischenzeitlich leben 800 bis 1000 Gastarbeiter im Dorf. Es sind vor allem junge, kräftige Männer, die auch nach Feierabend noch viel Energie übrighaben. Es kommt zu Schlägereien, Messerstechereien, Schießereien.

Für einige der alteingesessenen Heidebauern wird der Ölrausch zum Segen. Wer über ein gut gelegenes Grundstück verfügt, den macht das Öl zum Millionär. Noch heute zeugen die teils prächtigen Bauerngehöfte vom Reichtum, den das Öl nach Wietze brachte. 

Deustchland, Wietze | Deutsches Erdölmuseum in Wietze bei Celle
Alte Postkarte von Wietze mit Blick auf die Erdölbohrungen.Bild: Deutsches Erdölmuseum

Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen in den Plänen der Erdölfirmen neben Wietze andere Ortsnamen auf, locken anderswo größere, erfolgreichere Ölfelder. "Die Erdölvorkommen sind endlich, das kriegt man in Wietze im kleinen Maßstab noch einmal vor Augen geführt", sagt Museumsleiter Lütgert. Als in Wietze kaum noch Öl aus den Bohrungen sprudelt, wird der Abbau noch einige Jahrzehnte lang in den Boden verlegt, wo Bergarbeiter in einem fast 100 Kilometern langen Stollennetz Ölsand aus der Erde holen. Doch spätestens als in den 60er-Jahren die Schutzzölle fallen, ist die Förderung von Wietzer Erdöl nicht mehr wirtschaftlich. Öl aus dem Ausland ist billiger. 

Erdöl und Erdgas: Fast vollständig abhängig von Importen

Zur Hochzeit des Erdölbooms in Wietze 1909 wurden 113.000 Tonnen Erdöl gefördert - lächerlich geringe Mengen, wenn man sich den heutigen, auf ein Vielfaches angewachsenen deutschen Erdölhunger anschaut. Deutschland verbrauchte 2020 knapp 95 Millionen Tonnen Erdöl, davon stammten laut Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie rund 1,8 Millionen Tonnen Erdöl aus heimischer Produktion, die restlichen 98 Prozent wurden aus dem Ausland importiert, vor allem aus Russland. Beim Erdgas produzierte Deutschland 5,2 Milliarden Kubikmeter bei einem Verbrauch von 87 Milliarden Kubikmetern und musste damit etwa 94 Prozent aus dem Ausland einführen.

Infografik Erdoel Erdgas Produktion DE

"Wir waren spätestens seit der Nachkriegszeit immer importabhängig", sagt Andreas Seeliger, Professor für Energiewirtschaft an der Hochschule Niederrhein. Kein anderes Land in Europa verbraucht mehr Öl und Gas. Dieser Energiebedarf lässt sich in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland auch bei gutem Willen nicht komplett mit heimischer Produktion ersetzen, stellen Erdöl- und Erdgasförderer klar. 

"Niemand erwartet, dass die einheimische Produktion die Lücke füllen kann, die sich öffnet. Aber jedes Barrel, jedes Molekül zählt", sagt Robert Frimpong, Geschäftsführer von Wintershall Dea Germany, dem größten Erdölproduzenten in Deutschland - der im Übrigen auch am Pipeline-Projekt Nordstream 2 beteiligt war. 

Deustchland, Wietze | Deutsches Erdölmuseum in Wietze bei Celle
Alte Bohrköpfe im Deutschen Erdölmuseum in Wietze.Bild: Astrid Benölken/DW

Am erfolgversprechendsten, um kurzfristig die heimischen Öl- und Gasfördermengen zu steigern, sei nicht die Erschließung von neuen Gas- und Ölfeldern in Deutschland, sondern die Optimierung der bereits vorhandenen Felder, sagt Frimpong. "Gerade schauen wir uns nicht nach neuen Förderstellen um, sondern versuchen vor allem, höhere Anteile aus unseren bereits existierenden Feldern zu gewinnen." Bis heute verbleiben etwa 40 Prozent der Ressourcen im Boden - diesen Anteil versuchen die Unternehmen weiter zu minimieren. 

Wintershall Dea Germany betreibt verschiedene Erdöl- und Gas-Förderstellen, darunter die größte Offshore-Bohr- und Förderplattform, die Mittelplate A, im gleichnamigen Ölfeld im nordwestdeutschen Wattenmeer. Die Mittelplate ist das mit Abstand ertragreichste Ölfeld in Deutschland. Bislang hat die Plattform etwa 40 Millionen Tonnen Öl gefördert, jährlich sind es zwischen eins und zwei Millionen Tonnen. 

Wintershall Dea plant, den südlichen Teil von Mittelplate weiter auszubauen. "Wenn die Genehmigungsverfahren schnell durchlaufen werden, könnte die Ölproduktion schon 2025 beginnen", stellt Frimpong in Aussicht. 

Deutschland, Schleswig-Holstein | Bohrinsel Mittelplate im Wattenmeer
Die Förderplattform Mittelplate im Wattenmeer.Bild: C. Kaiser/blickwinkel/Imago Images

Ressourcen in Deutschland: Fracking for Future?

Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke, der erstmalige Bau von Flüssiggasterminals, ein späterer Kohleausstieg: Russlands Invasion der Ukraine hat viel von dem, was energiepolitisch längst als abgehakt galt, zurück in die Debatte gebracht. Bei der Suche nach mehr Fördermöglichkeiten für inländische Ressourcen zuletzt auch: Fracking

Infografik Wie Fracking funktioniert DE

Beim Fracking wird Gestein durch eine Sand-Wasser-Chemikalien-Mischung aufgebrochen, um Gas und Öl zu lösen. Sogenanntes "konventionelles" Fracking mit relativ porösem Sandstein ist in Deutschland erlaubt. "Unkonventionelles" Fracking in Schiefer-, Ton- oder Kohleflözgestein, das deutlich stärker gefrackt werden müsste und näher am Grundwasser liegt, ist dagegen seit 2017 verboten - zu groß ist die Befürchtung, dass die Umwelt langfristig Schaden nimmt und das Grundwasser verunreinigt wird.

Anfang April schlug Bayerns Ministerpräsident Markus Söder trotzdem vor, die Möglichkeiten für unkonventionelles Fracking in Deutschland noch einmal zu überprüfen. Das dürfte sein Bundesland unter dem Strich weniger treffen, denn die größten frackbaren Gasreserven liegen im Norden Deutschlands. Wirtschaftsminister Robert Habeck lehnte Fracking aber wiederholt ab. In einem Interview mit der Funke Mediengruppe sagte er zuletzt, dass Fracking "schwer möglich" sei. 

Laut Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie lassen sich aus deutschem Schiefergestein bis zu 2,3 Billionen, in Kohleflözen 450 Milliarden Kubikmeter Erdgas durch Fracking erschließen. Energiewirtschaftsforscher Seeliger geht davon aus, dass zum Beispiel das Schiefergas optimistisch geschätzt ein Jahrzehnt lang Gasimporte vollständig ersetzen könnte - allerdings langfristig und nicht schon im nächsten Winter. Gefracktes deutsches Gas und Öl, sagt Seeliger, würde die Versorgungssicherheit stärken, die Transportkosten wären geringer und Deutschland hätte schon durch die theoretische Verfügbarkeit ein Ass bei Preisverhandlungen im Ärmel. 

Deutschland Symbolbild Fracking Schild Kein Fracking
Protestschild gegen Fracking im Bundesland Niedersachsen (2015) Bild: picture-alliance/dpa/H. Hollemann

Technisch möglich, politisch undenkbar

Trotzdem glaubt Seeliger, dass die Zeit für solche Argumente vorbei ist: Ein Großteil der Deutschen sei klar gegen Fracking, zumindest in Deutschland. Auch wenn die derzeitige Energiekrise mit Russland den Wunsch nach unabhängiger, eigener Gasversorgung gestärkt habe, glaubt Seeliger nicht, dass das Momentum trägt: "Realistisch ist, dass wir durch unkonventionelles Fracking ein paar Milliarden Kubikmeter rausholen - und ich glaube, für den Beitrag will da keiner dieses heiße Eisen anfassen."

Wintershall Dea Germany Chef Frimpong hält sich zurück: "Es ist technisch möglich, aber wir beobachten, dass die derzeitige politische und öffentliche Meinung das nicht stützen."

Weil die eigenen fossilen Ressourcen und erneuerbaren Energien den Energiehunger noch nicht sättigen, hilft im Moment, laut Seeliger, also nur eins: aus möglichst vielen verschiedenen Quellen Erdgas und Erdöl zu beziehen.

Deustchland, Wietze | Deutsches Erdölmuseum in Wietze bei Celle
Alter Förderturm im Deutschen Erdölmuseum Wietze.Bild: Astrid Benölken/DW

Auch in Wietze gibt es noch Schiefergas- und Schieferölvorkommen, die mit Fracking wahrscheinlich abbaubar wären. "Wenn man ganz verzweifelt ist, wären wir vielleicht noch eine Option", sagt Museumsleiter Lütgert und lacht. "Aber das kann nicht das Ziel sein." Von den Jahren, in denen Wietze der Ölnabel Deutschlands war, ist vor allem eine Lektion geblieben: Wie vergänglich der Rausch nach Rohstoffen ist. Das in Wietze geförderte Öl ist längst verarbeitet, verbrannt, verschwunden, die wilden Zeiten vorbei, die Schächte von früher verfüllt. 

"Manche, die erst in den letzten Jahren zugezogen sind, haben keinen blassen Schimmer haben, was hier mal passiert ist", sagt Lütgert.

Porträt einer Frau mit langen, blonden Haaren, die eine Brille trägt
Astrid Benölken Redakteurin und Reporterin mit Schwerpunkt Europa