Wie groß ist die Unterstützung für die Waffenruhe in Israel?
24. Januar 2025Dutzende Särge, gehüllt in israelische Flaggen, standen vergangene Woche vor dem Büro des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu. Dort abgestellt hatten sie Demonstranten, die gegen die derzeitige Waffenruhe und das Geiselabkommen protestieren und einen militärischen Sieg herbeiführen wollen.
Am vergangenen Sonntag war nach mehrfachen Verzögerungen ein dreistufiger Plan für einen Waffenstillstand in Kraft getreten. Am Sonntagnachmittag wurden dann drei weibliche Geiseln freigelassen, im Austausch gegen 90 palästinensische Gefangene, die meisten davon Frauen und Minderjährige, sowie mehrere palästinensische Kinder, die in israelischen Gefängnissen in Verwaltungshaft gehalten wurden. Vier weitere weibliche Geiseln sollen an diesem Samstag freikommen.
Das Abkommen spaltet die israelische Bevölkerung in Befürworter und Gegner. Die israelische Regierung, allen voran Netanjahu, hatte während des gesamten Konflikts immer wieder betont, es sei eines der Hauptziele der Militäreinsätze, die Hamas im Gazastreifen zu entmachten. Die Terrororganisation hatte am 7. Oktober 2023 einen großangelegten Anschlag im Süden Israels verübt, bei dem etwa 1200 Menschen getötet und fast 250 weitere entführt wurden. Dieser Angriff löste den Krieg in Gaza aus.
Die fünfzehn Monate später von Vertretern Katars, Ägyptens und der alten und neuen US-Regierung in Doha ausgehandelten Kompromisse, die in die Waffenruhe mündeten, haben Hoffnungen geweckt, dass wenigstens einige der fast 100 Geiseln, die sich noch immer in den Händen der Hamas befinden, bald nach Hause zurückkehren können.
Belohnt die Waffenruhe das Vorgehen der Hamas?
Für die Gegner der Waffenruhe ist das Abkommen eine Kapitulation vor der Hamas. Deren gewalttätige Taktiken würden damit belohnt. Laut einer von der israelischen Tageszeitung "Ma'ariv" im Januar durchgeführten Umfrage sprechen sich 19 Prozent der Israelis gegen das Abkommen mit der Hamas aus, das auch die Rückkehr der noch in Gaza gefangengehaltenen Geiseln beinhaltet.
Einer der Gegner des Abkommens ist Avi. Er ist Soldat im aktiven Dienst und kann deswegen nicht mit vollem Namen genannt werden. Zwar empfindet er große Anteilnahme für die Geiseln und deren Familien, aber nach seiner Überzeugung wäre es sehr viel wichtiger, die Hamas zu schlagen. "Der Gesellschaft fällt es leichter, Opfer und Verletzte zu akzeptieren als Geiseln", sagt er zur DW und fügt hinzu, die israelische Gesellschaft müsse seiner Meinung nach eine Debatte darüber führen, welchen Preis sie für die Freiheit der Geiseln zu zahlen bereit sei.
Ariel ist Rechtsanwalt in Tel Aviv und möchte ebenfalls nicht mit vollem Namen genannt werden. Auch er ist gegen das Abkommen. "Viele der freigelassenen Gefangenen werden sich wieder dem Terrorismus zuwenden und das wird weitere israelische Leben kosten", ist er überzeugt. Er glaubt auch, solche Abkommen würden militanten Gruppierungen einen Anreiz geben, weitere Geiseln zu nehmen, um ihre Ziele zu erreichen. "Die Hamas vertritt eine mörderische Ideologie. Und die wird sie weiter vertreten, solange sie über das Territorium dafür verfügt."
Mehrheit befürwortet ein Ende des Krieges und ein Geiselabkommen
Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute, einer Denkfabrik mit Sitz in Jerusalem, unterstützt eine Mehrheit von 57,5 Prozent der Israelis ein umfassendes Abkommen, bei dem im Gegenzug für die Freilassung aller Geiseln die Kampfhandlungen in Gaza beendet werden.
Einige von ihnen versammeln sich jede Samstagnacht zu Protesten in Jerusalem. Am Vorabend der Waffenruhe war die Stimmung hier ernst und angespannt. Das vorherrschende Gefühl lautete: Das Abkommen ist zwar nicht perfekt, doch es gibt zumindest die Hoffnung, dass die Geiseln nach Hause kommen. Eshel ist bei fast jedem dieser samstäglichen Proteste dabei und fordert die Regierung auf, auf die Freilassung der Geiseln hinzuarbeiten. "Wir können nur auf das Beste hoffen. Und dass das Abkommen hält bis zur zweiten Phase."
Rechtsextreme Regierungsmitglieder wollen den Krieg fortsetzen
Erst während der zweiten Phase sollen die restlichen 64 Geiseln freigelassen werden. Wie diese Phase genau verlaufen soll, muss von den beiden Parteien ab dem 16. Tag der vorläufigen Waffenruhe ausgehandelt werden. Ziel ist ein dauerhafter Waffenstillstand.
Innerhalb des rechts-religiösen israelischen Kabinetts hat Finanzminister Bezalel Smotrich von der Partei "Religiöser Zionismus" allerdings bereits deutlich gemacht, dass er die Regierung verlassen wird, wenn diese ihr Ziel, die Hamas in diesem Krieg zu zerstören, nicht weiter verfolgt. Itamar Ben-Gvir, der bis zum Sonntag Minister für Nationale Sicherheit war, hat mit seiner ultranationalistischen Partei Otzma Yehudit ("Jüdische Stärke") bereits die Regierungskoalition verlassen und gelobt, nur zurückzukehren, wenn der Krieg wieder aufgenommen wird.
"Netanjahu weigert sich, anzuerkennen, was jeder einzelne Israeli weiß: Dieses Abkommen hat einen Preis und dieser Preis ist hoch. Das Oberhaupt einer Nation muss anerkennen, was dieser Preis ist, und ihn akzeptieren", schreibt der israelische Kommentator Nahum Barnea in der Tageszeitung "Yedioth Ahronoth" mit Blick auf die Koalitionspartner des Ministerpräsidenten. Die Unterstützer des Abkommens werfen Netanjahu, der mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, schon seit langem vor, eine Einigung zu verzögern, um sein eigenes politisches Überleben zu sichern und seine Koalition zusammenzuhalten.
Die zweite Phase des Abkommens muss erst noch verhandelt werden
Als die ersten drei freigelassenen Geiseln israelischen Boden erreichten, hieß der israelische Ministerpräsident sie in einer veröffentlichten Erklärung mit den Worten willkommen: "Die gesamte Nation umarmt euch. Willkommen zuhause." Einen Tag später schrieb der israelische Journalist Sima Kadmon: "Die gesamte Nation hat sie umarmt, Netanjahu, aber nicht die gesamte Regierung."
"Wir wissen, wie viele Monate sie sinnlos gefangen blieben, wegen ihres Zögerns, ihrer Ablehnung, ihres Zauderns, ihrer Feigheit, und weil sie vor den Drohungen Ben-Gvirs eingeknickt sind, der seitdem explizit zugegeben hat, wie er über Monate aus politischen Gründen ein Geiselabkommen erfolgreich hinausgezögert hat."
Wenngleich noch nicht klar ist, ob die Koalitionsregierung Netanjahus über die zweite Phase des Abkommens stolpern wird, könnte es den Anfang von ihrem Ende bedeuten. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, falls Smotrich die Regierung verlassen sollte, ein Sicherheitsnetz spannen zu wollen, um die Regierung für die Dauer der verschiedenen Phasen des Abkommens zu retten. Danach könnten jedoch Neuwahlen anstehen.
Die Befürworter des Abkommens können Netanjahus politisches Kalkül nur schwer nachvollziehen. Michael, der ebenfalls an den Protesten am Samstag teilnahm, steht der Familie Horn nahe. Deren beide Söhne Yair und Eitan sind unter den Geiseln, aber nur einer von ihnen steht auf der Liste derer, die in Phase Eins freigelassen werden sollen.
"Das wird vermutlich der nächste politische Kampf", sagt Michael zur DW. "Wir müssen protestieren, damit sie sich auf ein vollständiges Abkommen einlassen und sie alle nach Hause bringen und alle Vereinbarungen respektieren. Denn wenn sie das nicht tun, werden einige der Geiseln zurückgelassen."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.