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Wie gefährlich ist der französische Nationalismus?

Johanna Schmeller20. März 2012

Frankreich sucht einen vermutlich rechtsextremen Killer - und schon appellieren Spitzenpolitiker aller Fraktionen erneut an den Zusammenhalt der "Grande Nation" gegen das infiltrierende Böse.

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(Foto: Michel Spingler/AP/dapd)
Bild: AP

Auch einen Tag nach dem blutigen Anschlag auf eine jüdische Schule in Toulouse befindet sich Frankreich im Schock: Um elf Uhr vormittags gedachte das Nachbarland Deutschlands der Opfer mit einer landesweiten Schweigeminute, der auch die Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy und François Hollande beiwohnten. Bereits am Montagabend hatte sich die politische Spitze des Landes zu einer Gedenkfeier in einer Pariser Synagoge eingefunden.

Drei Kinder und ein Lehrer sind am Montag (19.03.2012) bei einem Attentat vor einer jüdischen Schule ums Leben gekommen, ausgerechnet in der verschlafenen Stadt Toulouse, die bislang allenfalls als Sitz des Luftfahrt-Giganten "Airbus" in den Nachrichten aufgetaucht war. Noch ist der Täter, dem französische Medien einen rassistischen Hintergrund unterstellen, nicht festgenommen. Nach einem Bericht des Magazins "Le Point" könnte er einer von drei Soldaten sein, die vor vier Jahren wegen Neonazi-Umtrieben aus der Armee entlassen worden waren.

Auch wird ein Zusammenhang zur Ermordung von drei Soldaten mit maghrebinischem und karibischem Hintergrund gesehen, die in der vergangenen Woche mit derselben Waffe erschossen wurden. Seine Morde in der Schule soll der Täter zudem mit einer kleinen Handkamera dokumentiert haben. Mehr ist derzeit nicht bekannt. Die Politik hat die höchste Stufe des nationalen Anti-Terrorismus-Planes ausgelöst. Der laufende Wahlkampf sei dagegen ausgesetzt, ließen die Sprecher aller Parteien wissen.

Politische Appelle an die Nation

Und doch traten die Spitzenkandidaten aller Fraktionen bereits am Montagabend wieder vor die Mikrofone - um einmal mehr die Werte der französischen Republik im Angesicht der Katastrophe zu beschwören: Präsident Nicolas Sarkozy nennt die Ereignisse eine "nationale Tragödie". "Alle Franzosen" müssten nun zusammenstehen, formuliert auch sein Gegenspieler François Hollande in einem ersten Fernsehauftritt: "Für Zweifel ist jetzt kein Platz, wir müssen vereint auftreten. Selten gibt es Ereignisse, die uns so sehr zusammenrücken lassen" - besonders, wenn "Aggression, Grauen, ein rassistischer oder antisemitischer Akt geschehen". Geschlossenheit stehe sogar noch vor der Analyse der Hintergründe.

Nationale Schweigeminute an französischen Schulen. Präsident Sarkozy mit Bildungsminister Philippe Chatel, Lehrern und Schülern (Foto:Jacques Brinon, Pool/AP/dapd)
Trauer in Frankreich: Nationale Schweigeminute für die OpferBild: AP

Diese Wortwahl kann als bemerkenswert französisch betrachtet werden. Sowohl der amtierende Präsident als auch der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten bemühen ein altbewährtes Konzept der Krisenintervention: Beide appellieren an die Einheit der französischen "Grande Nation" - gerade vor dem Hintergrund eines gleichsam 'von außen' über das Volk hereinbrechenden Unheils.

Die scharfe Trennung zwischen einer "gesunden" Nation, die wie ein Mann zusammensteht, und dem infiltrierenden, von außen kommenden Bösen kann dabei als Teil der französischen Identität gesehen werden - aber auch als ein besonders gefährlicher Teil einer Argumentation, wie sie das rechte Lager längst für sich instrumentalisiert hat. Der 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründete "Front National" bedient sich traditionell dieses Konzepts, das Fremdes als feindlich ausgrenzt. Le Pens derzeit im Präsidentschaftswahlkampf kandidierende Tochter Marine hat ihre Kampagne in Anbetracht der Ereignisse von Toulouse derweil ebenso öffentlichkeitswirksam ausgesetzt wie alle übrigen Kandidaten. Öffentlich äußerte auch sie ihr Bedauern.

Entstehung des französischen Nationalismus

Ideell entstand der französische Nationalismus während der Aufklärung, überwiegend in der französischen Bourgeoisie. Mit dem Prozess um den jüdischen General Alfred Dreyfus kam eine Intellektuellenbewegung auf, deren allererste Kontroversen sich prompt an der Frage der Nation entzündeten. Nach der Dreyfus-Affäre bekam der Nationalismus, ursprünglich eine linke Bewegung, die die Selbstbestimmtheit der Völker forderte, einen rechten Schlag.

Scherheitskräfte sperren die Straße nach dem Attentat in einer jüdischen Schule in Toulouse (Foto: Remy de la Mauviniere/AP/dapd)
Sicherheitskräfte sperren die Straßen rund um die SchuleBild: AP

Im 19. Jahrhundert ließ sich der französische Kolonialstaat erst durch das Konzept der "Nation" festigen, seine Einheit außenwirksam demonstrieren: Die Identifikation mit der (kontinental-)französischen Kultur wurde zur unabdingbaren Voraussetzung für den Zusammenhalt eines über alle Meere zersplitterten Reiches, und die gemeinsame Sprache erhielt in einer auf mehrere Kontinente verteilten Nation einen nahezu übergroßen Stellenwert.

Der von der Aufklärung noch als Ideal propagierte "Weltbürger", der sich in allen Kulturen souverän bewegt, wurde für das französische Kolonialreich eher zur Bedrohung. Und bis heute wird die französische Nationalität nicht - wie etwa die deutsche - durch Blutrecht vererbt, sondern qua Geburt auf französischem Territorium begründet.

Für politische Ziele instrumentalisiert

Nirgends in Europa ergreift der Nationalismus daher in so ausgeprägter Weise alle juristischen, kulturellen und alltäglichen Belange wie in Frankreich: Der Vorrang der Nation vor Einzelinteressen ist in der Verfassung verankert. Die französische Sprache wird in einer auf dem europäischen Kontinent beispiellosen Art als Kulturgut betrachtet. Die Erziehung im Dienste der Nation ist in einem elitären Universitätssystem und im Ideal der "Meritokratie", dem Verdienstprinzip, zementiert. Und der blutrünstige Text der Marseillaise, der zum Aufspießen jedes Nicht-Franzosen aufruft, wird jedem ABC-Schützen eingetrichtert.

Marine Le Pen, Präsidentschaftskandidatin der rechtsextremen "Front National", steht am Renderpult (Foto: REUTERS/Philippe Laurenson)
Präsidentschaftskandidatin der "Front National" Marine Le PenBild: Reuters

In Frankreich lässt sich in Krisenzeiten bis heute erleben, wie die "Nation" über alle parteilichen Grenzen hinweg als hohe, wenn nicht höchste Errungenschaft der französischen Geschichte gepriesen, dabei aber für ganz unterschiedliche politische Ziele instrumentalisiert wird.

Sobald Frankreich seine Fassung wiedergefunden hat, sobald der Täter gefasst ist, mag - konform mit der Ankündigung des Sozialisten Hollande - die Zeit für Analysen gekommen sein.