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Politik

Langsame Bürokratie trennt Balkan-Familien

4. August 2020

Zehntausende Menschen vom Westbalkan finden jedes Jahr Arbeit in Deutschland. Für ihre Familien beginnt damit ein oft langes Warten auf die Erlaubnis zum Nachzug. Das muss sich ändern, meint die Opposition im Bundestag.

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Familie Zivkovic aus Serbien
Vater Željko arbeitet im bayerischen Hof. Mit den Kindern kommuniziert er meist online.Bild: Privat

Vor zwei Jahren hatten Milica Živković und ihr Ehemann Željko Serbien endgültig satt. Anstatt sich weiter mit schlecht bezahlten Jobs durchzuschlagen, die oft zudem von Gnade und Ungnade der regierenden Partei abhängen, lernte Željko LKW fahren. Seit Anfang 2019 arbeitete er in der bayerischem Stadt Hof. Dort mietete er eine große Wohnung, schließlich sollte die Familie ihm bald nach Deutschland folgen.

Doch obwohl Milica Živković bereits im November 2018, als klar war, dass ihr Mann Arbeit in Deutschland gefunden hatte, für sich und zwei Kinder einen Termin in der deutschen Botschaft in Belgrad beantragte - ihren Antrag auf Familienzusammenführung dort einreichen konnte sie bis heute nicht.

"Ich fühle mich schrecklich", sagte Milica im Juni 2020 im DW-Gespräch. "Als würde ich nicht vor der Tür Deutschlands warten, sondern vor der eines Irrenhauses. Die Trennung ist wie Folter für meinen Mann, für die Kinder und mich."

Das belegen zwei ärztliche Atteste aus dem Klinikzentrum der südserbischen Stadt Niš. Ein Psychologe schreibt, der siebenjährige Sohn sei impulsiv und trotzig - eine Reaktion darauf, dass seine Familie nun getrennt sei. Im zweiten Befund schreibt eine Ärztin, die vierjährige Tochter uriniere unkontrolliert - wegen der psychischen Belastung durch das Warten auf den Umzug nach Deutschland.

Familie Zivkovic aus Serbien
Seit Anfang 2019 getrennt: Familie Živković aus SerbienBild: Privat

Massiver Stau

Die lange Zeit des Wartens auf einen Termin zur Beantragung des Familiennachzugs war für Mutter Milica auch eine Odyssee durch Foren und Facebook-Gruppen, wo sich Menschen mit ähnlichen Problemen austauschen. Mehrere Tausend Menschen vom Westbalkan, die in der Bundesrepublik arbeiten, leben jahrelang getrennt von ihren Familien - weil die deutsche Bürokratie Arbeitsvisa schneller erteilt als solche für Familienzusammenführung.

Unter zwei Dutzend Fällen, in denen die elektronische Anmeldung für einen Termin der DW vorliegt, waren auch solche, wo beide Eltern schon in Deutschland arbeiten. Die Kinder lebten bei den Großeltern im Herkunftsland.

Die Geschichten der Betroffenen sind unterschiedlich - aber sie gleichen sich in einem Punkt: Alle sind verzweifelt und wütend auf die schleppend arbeitenden deutschen Behörden. "Ich werde mit Lotto anfangen - die Chancen zu gewinnen stehen ähnlich wie die für ein deutsches Visum", schreibt ein Mann in einer Facebook-Gruppe.

Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin heißt es auf Nachfrage, trotz Personalverstärkungen übersteige die Nachfrage in sechs Westbalkanländern bei Weitem die Kapazitäten der Visastellen - "nicht zuletzt als Folge der sogenannten Westbalkan-Regelung."

Folge der Westbalkan-Regelung

Nach dieser Regelung dürfen seit 2016 Menschen aus Albanien, Bosnien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien in Deutschland arbeiten - auch ohne berufliche Qualifikationen. Nach einigem Hin und Her beabsichtigt die große Koalition in Berlin nun, diese Sondererlaubnis bis 2023 zu verlängern. Jährlich sollen neben qualifizierten Arbeitskräften bis zu 25.000 unausgebildete Arbeiter vom Westbalkan in die Bundesrepublik kommen dürfen.

Das Auswärtige Amt gesteht einen Fehler ein, der vielen Familien aus Serbien zu schaffen macht: 2019 wurden neue Kategorien für Familiennachzug bestimmter Arbeitnehmergruppen eingeführt. Damals habe Botschaftspersonal einigen Menschen "bedauerlicherweise irrtümlich" davon abgeraten, sich neu für einen Termin zu registrieren. Tatsächlich kamen neu registrierte Antragsteller dann viel schneller an Termine als solche, die auf der alten Warteliste standen.

Dazu kam dann noch Corona und legte die deutschen Botschaften in der Region für einige Monate lahm. Aber obwohl die deutsche Wirtschaft im Pandemie-Jahr stark schrumpft, nimmt das Interesse an Arbeitskräften vom Balkan nicht ab. Was ist mit deren Familien? Schließlich heißt es im Artikel 6 des Grundgesetzes: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung."

Bundestag Gökay Akbulut
Gökay Akbulut, migrationspolitische Sprecherin der Partei "Die Linke" im BundestagBild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Familien haben keine Priorität

"Es wird hier ganz klar mit zweierlei Maß gemessen", meint Gökay Akbulut, die migrationspolitische Sprecherin der Partei "Die Linke" im Bundestag. "Während den Familien, die hier leben, dieser hohe Stellenwert der Familie auch zu Gute kommt, so gilt dies nicht für viele Familien von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten."

Akbulut, selbst als Kind nach Deutschland mit den Eltern eingewandert, fühlt sich an die Zeiten der "Gastarbeiter" (BRD) und "Vertragsarbeiter" (DDR) erinnert. "Bis heute sollen die Menschen aus dem Ausland vor allem zu uns kommen um zu arbeiten, damit der deutsche Fachkräftemangel abgedeckt werden kann. Familienzusammenführungen haben nach wie vor keine Priorität."

Deutschland könne kein attraktives Einwanderungsland sein, wenn jeder Antrag auf ein Visum einem "Gang durch die Mühlen der Bürokratie" gleiche, glaubt Filiz Polat, migrationspolitische Sprecherin der Grünen. "Arbeitsmigration darf nicht zur Rosinenpickerei werden. Es darf nicht zur Erwartungshaltung werden, dass Menschen ihre Arbeitskraft bei uns einsetzen und eine Einschränkung des gemeinsamen Familienlebens geduldet werden kann", so Polat gegenüber der DW.

Bundestag - Filiz Polat - Bündnis 90/Die Grünen
Filiz Polat, migrationspolitische Sprecherin der GrünenBild: picture-alliance/dpa/B. v. Jutrczenka

Endlich ein Termin

Milica Živković, die immer noch auf das gemeinsame Familienleben in Hof wartet, konnte ihren Mann mit den Kindern nun schon weit über ein Jahr lang nur als Touristin besuchen. Im Juni 2020, als die DW zum ersten Mal mit ihr sprach, klang sie hoffnungslos.

Ende Juli 2020 kam dann die erlösende Nachricht: kommende Woche soll die Familienmutter endlich das Visum für sich und die beiden Kinder beantragen dürfen. Milica bleibt skeptisch: "Das kann aber auch nur der Anfang sein. Dann stellt sich die Frage, wie lange wartet man danach, ob sie vielleicht zusätzliche Dokumente wollen…"

Trotzdem klingt die junge Mutter jetzt optimistischer. Und wollte die frohe Kunde natürlich mit ihren Mitleidenden aus der Facebook-Gruppe teilen. Einige reagierten jedoch verwundert, andere sogar empört - denn sie warten selbst noch länger als Milica Živković und haben nach wie vor nichts von der Botschaft gehört.