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Die Hüter der Erinnerung

Julia Hahn28. April 2014

Der "Marsch der Lebenden" erinnert heute in Auschwitz an die Opfer des Holocaust. Wie jedes Jahr am 28.4. Doch was ist, wenn es bald keine Zeitzeugen mehr gibt? Es braucht neue Formen des Gedenkens.

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Fotos von ehemaligen Häftlingen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (Foto: J.Hahn/DW)
Bild: DW/J. Hahn

Margrit Bormann packt die Tasche für ihren nächsten Einsatz: Pinzette, Pinsel, Skalpell, Mikroskop. Mit ihrem weißen Labor-Kittel und der runden Brille sieht sie aus wie eine Ärztin. Nur heilt sie keine Wunden, sondern Erinnerungsstücke, rettet Habseligkeiten der Nazi-Opfer vor Staub, Rost und Schimmel. Bormann selbst sagt: vor dem Vergessen.

Die 34-jährige Deutsche ist Konservatorin in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, ihre wichtigste Regel: Erhalten, nicht reparieren. "Zum Beispiel die Koffer, die wir im Museum haben: ein Großteil ist zerknautscht oder es fehlt der Deckel oder der Verschluss funktioniert nicht mehr. Das sind aber Sachen, die wir nicht reparieren." Die Schäden seien "original", betont Bormann. Das heißt: Es gab sie bereits zwischen 1940 und 1945, als die Nazis in Auschwitz mehr als eine Millionen Menschen ermordeten - Juden, Polen, Sinti und Roma, Frauen, Männer und Kinder aus ganz Europa.

Retten, was zu retten ist

Um das, was heute noch an die Toten erinnert, kümmern sich Bormann und ihre Kollegen in weiß gekachelten Labors. Beim Konservieren der Koffer orientieren sie sich an Fotos, die nach der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 aufgenommen wurden. Zunächst werden die Koffer gereinigt, Metallteile anschließend mit einem Schutzlack überzogen. Lederschuhe werden desinfiziert und eingefettet. Ein paar davon schaffen die Konservatoren am Tag - mehr als 100.000 gibt es insgesamt. Und das sind nur die Schuhe.

Margrit Bormann, Konservatorin in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (Foto: J.Hahn/DW)
Konservatorin Margrit BormannBild: DW/J. Hahn

Margrit Bormann schiebt einen Karton mit Zahnbürsten über den Tisch. Die dunklen Borsten biegen sich nach außen, die Kunststoff-Griffe sind abgenutzt. Für sie haben die Konservatoren noch keine Lösung. "Das Problem bei Kunststoff ist, dass es sich um ein relativ junges Material handelt. Die Forschung ist da noch nicht so weit". Bormann deutet mit dem Finger auf eine Bürste, feine Haarrisse ziehen sich durch den Griff. "Es wäre unklug, die Risse zu füllen, weil wir jetzt wissen, dass sonst die Zersetzungsprodukte in der Bürste bleiben und dann den Stiel von innen heraus zerstören würden." Bormann weiß: Sie arbeitet gegen die Zeit.

Verfallen, vergessen?

Was die Wissenschaftler aufwendig konservieren, das schauen sich Besucher im Museum Auschwitz an. Mehr als eine Million kommen jedes Jahr. In Block 5 des Stammlagers türmen sich hinter Glaswänden hunderte Koffer: der Name Petr Eisler, weiß auf dunklem Leder. Ein paar Schritte weiter Schuhe: eine rote Mädchensandale, vielleicht Größe 25. Auch Kochtöpfe und Pfannen: ein Milchkännchen, die blaue Emaille abgeplatzt. Es sind Alltagsgegenstände aus einer anderen Zeit. Sie sehen aus, als hätte sie jemand eingefroren für die Ewigkeit.

Im Gebäude nebenan deutet Krystyna Oleksy auf eine Glaswand - dahinter: Berge von Haarbüscheln. "Als man sie gefunden hat, waren sie in Papiersäcke verpackt", erklärt Oleksy den Besuchern. Die zierliche Polin arbeitet seit fast 40 Jahren für die Gedenkstätte, war lange Vizedirektorin. Sie kennt diesen Ort in- und auswendig. Auch heute noch macht sie manchmal Führungen. Und wie immer bleiben die Blicke der Besucher an der Vitrine mit den Haaren haften: Man erkennt kaum, ob die Büschel hinter dem Glas mal braun waren, blond oder schwarz. Gut zwei Tonnen sind es, den Todgeweihten von den Köpfen geschoren. Oleksy nennt sie "Lebenszeichen". Mit den Überlebenden habe man ausführlich diskutiert, was mit den Haaren passieren solle. "Viele haben gesagt: Das könnte das Haar meiner Mutter, meiner Frau, meiner Schwester sein und all das sind doch Menschenteile, man sollte die Haare vergraben", erinnert sich Oleksy. "Das machen wir nicht, die Haare gehören zu diesem Ort. Aber sie werden konservatorisch nicht behandelt." Das heißt: Sie bleiben liegen, bis sie irgendwann zerfallen.

Vitrine in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mit Koffern ehemaliger Häftlinge (Foto: J.Hahn/DW)
Lebenszeichen: Tausende Koffer retten die Konservatoren vor dem VerfallBild: DW/J. Hahn

Vorsicht: Einsturzgefahr

Vom Verfall bedroht ist auch Auschwitz-Birkenau - die Mordfabrik der Nazis, gut drei Kilometer vom Museum entfernt. Nur wenige der Baracken sind für Besucher zugänglich, in allen anderen droht Einsturzgefahr. Die von den Nazis vor ihrer Flucht gesprengten Krematorien und Gaskammern: Ruinen, ungeschützt der Witterung ausgesetzt. Für den Erhalt dieser Gebäude und Erinnerungsorte fehlte lange das Geld. 2009 wurde die Stiftung Auschwitz-Birkenau gegründet. Ihr Ziel: Weltweit Spenden einwerben und aus den jährlichen Zinsen die dringend notwendigen Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten finanzieren. 120 Millionen Euro wurden insgesamt zugesagt, 60 Millionen allein aus Deutschland. Auch andere EU-Staaten, die USA oder etwa die Türkei haben Hilfen versprochen. Heute, fünf Jahre später, ist nach Angaben der Stiftung noch nicht einmal die Hälfte des Geldes eingegangen. Während um die Finanzen noch gerungen wird, verfällt Auschwitz - jedes Jahr, jeden Tag ein bisschen mehr.

Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Bild: picture-alliance/dpa

Nur noch wenige Überlebende

Krystyna Oleksy geht mit den Besuchern entlang der dunklen Bahngleise in Birkenau, damals für Hunderttausende der Weg in den Tod. Einer, der das mit ansehen musste und heute als Zeitzeuge darüber spricht, ist Jacek Zieliniewicz. Er zeigt auf ein dunkles Backsteingebäude. "Diese Baracke war die Blockführerstube für das Frauenlager und da hinten stand das Orchester. Und die Juden sind durch diese Straße zum Krematorium 4 und 5 gegangen", erzählt er mit leiser Stimme in gebrochenem Deutsch.

Zieliniewicz war politischer Häftling in Auschwitz. Heute ist er 87 Jahre alt, hört schwer, geht leicht gebückt. Er will der Gruppe auch das zentrale Aufnahmegebäude zeigen, von den Nazis die "Sauna" genannt. Dort haben sie neue Häftlinge registriert - Menschen zu Nummern degradiert. Zieliniewicz erzählt, wie er helfen musste, das Gebäude zu bauen, da war er noch keine 18 Jahre alt. Was Auschwitz heute für ihn bedeutet, will eine junge Frau wissen. "Hier liegen ehemalige Häftlinge, die Asche meiner Freunde. Das ist ein Grab für mich", sagt er nachdenklich. Der alte Mann weiß um die Autorität seiner Worte, weiß, dass es nicht mehr viele wie ihn gibt. Was also, wenn Zieliniewicz nicht mehr über Auschwitz sprechen kann? Was, wenn kein Zeitzeuge mehr da ist?

Auschwitz-Überlebender Jacek Zieliniewicz aus Polen (Foto: J.Hahn/DW)
Hat Auschwitz überlebt: Jacek ZieliniewiczBild: DW/J. Hahn

Auschwitz 2.0

Pawel Sawicki soll darauf eine Antwort finden. Der 33-Jährige mit dem dunklen Vollbart ist Pressesprecher der Gedenkstätte. Wo heute sein Büro ist, war früher das SS-Krankenhaus. "Wenn es die Überlebenden und ihre Erinnerungen nicht mehr gibt, dann wird sich dieser Ort verändern. Also müssen wir etwas tun", sagt er und dreht einen Kugelschreiber zwischen den Fingern. Eine neue Dauerausstellung ist bereits in Arbeit. Denn die heutige stammt noch aus den 50er Jahren, wurde von Überlebenden konzipiert und seitdem nicht groß verändert. In spätestens sieben Jahren soll die neue Ausstellung fertig sein. Die Planungen sind noch nicht abgeschlossen, aber so viel steht fest: Die individuellen Schicksale und Geschichten sollen stärker in den Vordergrund gerückt werden, ebenso wie die Perspektive der Täter. "Es soll schlicht bleiben, zurückhaltend, ohne besondere mediale Effekte auskommen", sagt Sawicki.

Stacheldrahtzaun am Eingang zum ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau (Foto: J.Hahn/DW)
Die Herausforderung: Wer erinnert an Auschwitz, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?Bild: DW/J. Hahn

Und trotzdem bleibt die Aufgabe, vor allem junge Leute für Auschwitz zu interessieren. "Soziale Netzwerke sind da eine Möglichkeit und auch eine interessante Form des Gedenkens", sagt Sawicki. 2009 hat er die Gedenkstätte bei Facebook angemeldet. Inzwischen hat die Seite mehr als 100.000 "Likes" - so makaber das auch klingt. "Ich habe sozusagen ein Klassenzimmer mit 100.000 Schülern - was auch immer ich poste, das sehen sie. Aber wir betonen immer wieder: Der Besuch hier zählt. Nichts kann den Besuch in Auschwitz ersetzen."

Denn dieser Ort des Todes, davon ist er überzeugt, erzählt doch auch vom Leben. Die Koffer, Haare, Schuhe - sie brennen sich ein ins Gedächtnis. Es sind Erinnerungen, die auch in der Generation Facebook nicht mit dem nächsten Klick verschwinden.