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Wenn Sport zum Gewissenskonflikt wird

Ronny Blaschke20. November 2012

Muslimische Mädchen nehmen auf Druck ihrer Eltern oft nicht am Sportunterricht teil, in Vereinen sind sie selten aktiv. Immer mehr Lehrer und Trainer wollen das ändern und werben für Sport als Integrationshilfe.

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Fußballerin mit Kopftuch hechtet vergebens nach dem Ball (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Landov

An eine junge Basketballerin kann sich Gabriele Kremkow gut erinnern, sie war dribbelstark, flink. Auch eine Leichtathletin will ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen, ausdauerstark wie nur wenige, ehrgeizig. "Sie hätten es in Vereinen weit bringen können", glaubt Sportlehrerin Kremkow. "Aber ihre Eltern lehnten Sport ab." Beide Mädchen stammen aus strenggläubigen muslimischen Familien – ihre Talente werden vermutlich unentdeckt bleiben.

Es soll in dieser Geschichte nicht um die Namen der Mädchen gehen, denn Gabriele Kremkow weiß, dass einzelne Personen nicht für eine ganze Minderheit stehen können. Fast ihr gesamtes Berufsleben hat Kremkow an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Kreuzberg verbracht, an einer der größten Schulen der Hauptstadt Berlin, mit 120 Lehrern, 1300 Schülern, neunzig Prozent von ihnen aus Einwandererfamilien. Kremkow könnte lange über Bildungsferne referieren, über soziale Probleme, aber sie möchte Lösungsvorschläge diskutieren: "Wenn ich bei der Schul-Politik einen Wunsch frei hätte: Bitte fünf Sportstunden pro Woche."

400.000 muslimische Mädchen in Deutschland

Sport fördert Kommunikation, Toleranz, Gemeinschaftssinn – unabhängig von der Herkunft, das belegen Studien. Das Selbstbewusstsein, das Schüler im Turnen oder im Fußball stärken, können sie auf den Unterricht in Mathematik oder Geographie übertragen. "Das klingt einfacher, als es tatsächlich ist", sagt Kremkow. Mit ihrer Hilfestellung am Stufenbarren oder an der Kletterstange ist es nicht getan: "Wir dürfen nicht von oben herab über Religion urteilen, wir müssen uns ernsthaft mit Glaubensfragen auseinander setzen." Dazu gehört die Bedeutung des Kopftuches.

Zweikampf zweier Fußball-Spielerinnen. (Foto: dpa)
Das Kopftuch gehört im Fußball bei muslimischen Mädchen und Frauen oftmals zum OutfitBild: picture-alliance/dpa

Rund 400.000 muslimische Mädchen leben in Deutschland, die meisten stammen aus der Türkei. Im Durchschnitt tragen fünf muslimische Mädchen in den Klassen der Carl-von-Ossietzky-Oberschule ein Kopftuch, auch im Sport. Gabriele Kremkow führt viele Gespräche mit den Eltern, um für den Sportunterricht zu werben, sie wird unterstützt von den Sozialpädagogen der Schule.

Nicht überall auf der Agenda

Immer wieder kommt es vor, dass muslimische Eltern ihren Töchtern das Schwimmen verbieten. Sie fürchten, dass Bewegungen und Kleidung der Mädchen aufreizend sein könnten. Die Mädchen stellt das vor einen Gewissenskonflikt, sie möchten ihre Eltern nicht enttäuschen, aber sie wollen auch nicht von Mitschülern ausgegrenzt werden. Notfalls schwimmen sie in dünnen Hosen und Hemden. Mehr als ein Viertel aller Kinder lernen in Kreuzberger Schulen nicht schwimmen, im bürgerlichen Zehlendorf bleiben dagegen nur fünf Prozent Nichtschwimmer. "Sport sollte Spaß machen", sagt Gabriele Kremkow. "Wir dürfen niemanden mit Leistungsdruck abschrecken." An vielen Schulen schicken Lehrer muslimische Schülerinnen zum Frauenschwimmen, das in vielen Badeanstalten angeboten wird.

"Leider ist das Thema nicht in allen Schulen auf der Agenda", sagt Kremkow. Die Auslastung der Lehrer wächst, Vertretungen werden selten eingestellt, manchmal muss der Unterricht ausfallen. In der Carl-von-Ossietzky-Oberschule wurden Arbeitsgemeinschaften im Basketball, Badminton, Volleyball gegründet, besonders beliebt ist Mädchenfußball. Die Schülerinnen reißen sich um einen Platz beim jährlichen Anti-Gewaltturnier.

Sprachbarrieren und Anmeldebürokratie

"Manchmal überträgt sich die Begeisterung auf die Eltern, dann wird Sport völlig normal", sagt Sportdidaktiker Ulf Gebken von der Universität Oldenburg. Mit Hilfe des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) fördert er Projekte für Fußballerinnen mit Migrationshintergrund, die Kooperationen zwischen Schulen und Vereinen haben bundesweit Anerkennung gefunden. "Mädchen können als Übungsleiterinnen oder Schiedsrichterinnen Verantwortung übernehmen", sagt Gebken.

Schulen haben es nicht immer leicht, Musliminnen für Sport zu begeistern – Vereine haben es richtig schwer. Laut einer Studie der Universität Frankfurt sind weniger als fünf Prozent der erwachsenen Einwanderer in Sportklubs aktiv, bei ihren Töchtern ist die Zahl geringer. In einigen islamischen Ländern sind Vereine Männerdomäne, Ehrenamtsstrukturen fehlen. In Deutschland schrecken Sprachbarrieren und Anmeldebürokratie ab, außerdem können sich viele Familien eine Mitgliedschaft nicht leisten, so erfolgt der erste Sportkontakt für Kinder in der Schule.

Eine muslimische Schülerin sitzt in einem Ganzkörper-Badeanzug am Rande eines Schwimmbeckens (Foto: dpa)
Muslimische Schülerin mit Ganzkörperanzug beim SchwimmunterrichtBild: picture-alliance/dpa

Die neue, selbstbewusste Generation

Als vorbildlich für sein Integrationskonzept gilt der Berliner Fußball-Verband. "Wir waren bereit, Fehler einzugestehen und uns für Ideen zu öffnen", berichtet Gerd Liesegang, Vizepräsident des BFV, der seit mehr als dreißig Jahren in Kreuzberg lebt. Der Verband hatte den bundesweit ersten Integrationsbeauftragten mit türkischen Wurzeln berufen. Die Funktionäre wollen Hürden abbauen, führen besorgte muslimische Väter durch Duschkabinen oder Umkleidetrakte, sie verweisen auf den freundlichen Hausmeister und die gute Straßenbeleuchtung des Heimweges, alternativ fahren sie die Mädchen nach dem Training selbst nach Hause. Sie betonen immer wieder: Alkoholverbot, getrennte Schlafräume, vegetarische Speiseangebote.

Gabriele Kremkow, Ulf Gebken und Gerd Liesegang kennen auch eine neue, selbstbewusste Generation von Musliminnen, die sich für das Kopftuch entscheidet als Symbol ihrer Identität, nicht als Zeichen von Unterdrückung und Isolation. Immer mehr Verbände und Vereine erkennen die Herausforderungen des demografischen Wandels. Theo Zwanziger, ehemaliger DFB-Präsident, formuliert es so: "Kein Mädchen soll dem Fußball verloren gehen, weil es ein Kopftuch trägt."