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Asylsuche als Straftat

Cheslow, Daniella, z.Zt in Szeged / nm25. November 2015

Mit einem Grenzzaun will Ungarn Flüchtlinge an der Einreise hindern. Wer dennoch kommt, wird als kriminell eingestuft. Daniella Cheslow berichtet über einen Flüchtlings-Prozess in Szeged.

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Ungarisch-serbische Grenze in Röszke ist geschlossen
Bild: DW/N. Rujević

Anwalt Gabor Gyösö geht in einen gelben Backsteinbau, um Berufung einzulegen gegen die Ausweisung seines Mandanten. Der Mann aus Syrien hatte Mitte September die serbisch-ungarische Grenze überquert. "Das Gericht sollte die Umstände berücksichtigen, unter welchen der Angeklagte seine sogenannten Verbrechen begangen hat", sagt Gyösö, der für das Ungarische Helsinki-Komitee arbeitet, eine Menschenrechtsorganisation. "Aber die haben einfach keinerlei Einfühlungsvermögen."

Die drei Richter im Raum lehnen die Berufung ab. Ausweisen können sie den Mann allerdings nicht mehr, denn der Angeklagte hatte das Land mit seiner Familie bereits Ende September wieder verlassen. Dennoch will das Gericht alle Fälle zur Anzeige bringen. Und dabei ist es egal, ob die insgesamt 600 Menschen, die seit dem 15. September den neu errichteten Grenzzaun überquert haben, anwesend sind oder nicht.

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Anwalt Gabor Gyösö (rechts): "Keinerlei Einfühlungsvermögen."Bild: DW/D. Cheslow

Während Deutschland versucht, die Ankunft von beinahe einer Million Flüchtlingen zu bewältigen und mehr als 5000 Menschen täglich in Schlauchboten die griechischen Inseln erreichen, kommt in Ungarn so gut wie kein Asylsuchender mehr an. Nun arbeitet die Regierung nicht mehr nur daran, die Menschen aus ihrem Land fernzuhalten, sie unterstützt auch andere europäische Länder dabei, es genauso zu machen. "Europa hilft diesen Menschen bei der Reise, quasi ohne sie überhaupt zu kontrollieren", sagt Regierungssprecher Zoltan Kovacs. "Das ist wirklich ein gefährliches Vorgehen, das gestoppt werden muss." Kovacs erzählt, dass Ungarn nun Mazedonien, Serbien und Slowenien beim Ausbau der Grenzen unterstützt - mit Geld und Personal.

In Ungarn sind ungefähr noch 1500 der rund 300.000 Flüchtlingen verblieben, die im Sommer durch das Land reisten. Das sagen zumindest die Zahlen des Ungarischen Helsinki-Komitees. Ministerpräsident Viktor Orban hat versprochen, mit allen Mitteln gegen die von der Europäischen Union angedachte, verpflichtende Flüchtlingsquote vorzugehen. 2000 Menschen möchte die EU demnach in Ungarn unterbringen.

Rückendeckung aus der Bevölkerung

Laut einem Sprecher des Gerichts in Szeged sind seit Mitte September insgesamt 688 Menschen wegen illegalen Grenzübertritts schuldig gesprochen worden. Fast alle hat der Staat danach ausgewiesen und mit einer Einreisesperre zwischen einem und fünf Jahren belegt. Die Vereinten Nationen haben bereits verlauten lassen, dass ein Grenzübertritt bei Asylbewerbern keine Straftat sei.

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Regierungssprecher Zoltan Kovacs: "Gefährliches Vorgehen"Bild: DW/D. Cheslow

Ungarn sieht die Lage anders. "Selbst bei Syrern sehen wir da ein großes Fragezeichen", so Regierungssprecher Kovacs. "Wenn sie vom Krieg beispielsweise in die Türkei fliehen, sollen sie ein Recht auf Asyl haben. Aber es ist doch eine bewusste Entscheidung, wenn man einen tausend Kilometer langen Weg antritt, Schleppern viel Geld bezahlt, um das gewünschte Land zu erreichen."

Belege für Ungarns verschlossene Tore finden sich im ganzen Land. Da ist die neu errichtete aber leer stehende Zeltstadt außerhalb von Szeged; das verlassene Debrecen-Flüchtlingslager ungefähr zwei Autostunden östlich von Budapest und die vielen Stacheldrahtzaun-Rollen entlang der serbischen und kroatischen Grenze.

Die Regierung erhält für ihren Kurs Rückendeckung aus der Bevölkerung, sagt die Wissenschaftlerin Bori Simonovitis vom Tarki Institut für Sozialforschung in Budapest. Seit drei Jahren seien 40 Prozent der Ungarn gegen die Aufnahme von jeglichen Migranten, so Simonovitis

Warten auf Hilfe

Auf einem Weihnachtsmarkt im Zentrum von Budapest verkauft David Kocsis Glühwein. Der 31-Jährige erzählt, dass er im Sommer Massen von Flüchtlingen am Hauptbahnhof habe schlafen sehen. "Ich habe Mitleid mit ihnen. Die sitzen da rum und machen nichts." Auf der anderen Seite habe er aber auch Zweifel. "Wie kann es sein, dass jemand, der vor Krieg flüchtet, ein Smartphone, Geld und Anziehsachen besitzt? Krieg, wirklicher Krieg sieht doch anders aus", so Kocsis.

Die meisten Flüchtlinge wollen in dieser feindseligen Umgebung nicht bleiben. Doch mehrere Hundert stecken wegen der Strafverfolgung in Ungarn fest. Eine Stunde Autofahrt westlich von Budapest liegt Bicsk. 12.000 Ungarn leben hier in bescheidenen Häusern mit Terrakotta- oder Schieferdächern. Im September kam es hier zu Auseinandersetzungen zwischen einigen Hundert Migranten und der ungarischen Polizei. Heute leben rund 200 Flüchtlinge in einem Lager am Ortsrand.

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Abraham Baghdi Sar: "Ohne Papiere habe ich keine Zukunft"Bild: DW/D. Cheslow

Abraham Baghdi Sar ist einer davon. Im letzten Jahr ist der 22-Jährige aus Damaskus geflüchtet, um seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Schwester in die Niederlande zu folgen. Bei der Durchreise in Ungarn hatte die Polizei seine Fingerabdrücke genommen. Die holländischen Einwanderungsbehörden haben ihn dann wieder nach Ungarn abgeschoben, wo er nun seit sieben Monaten auf die Anerkennung seines Flüchtlingsstatus wartet. Während dieser Zeit nutzt er das gratis WLAN des Lagers und spricht viel mit seiner Familie.

"Jeden Tag sagen sie mir: 'Kümmere dich nicht um deine Dokumente, komm wieder zurück in die Niederlande '", erzählt Sar. "Aber wenn ich die Papiere nicht habe, dann kann ich mir hier in Europa keine Zukunft aufbauen, dann bekomme ich kein Studium und keine Arbeit."

"Wir könnten das besser machen"

Orbans Politik hat den Zulauf seiner Fidesz-Partei weiter verstärkt. Doch nicht jeder lehnt Flüchtlinge ab. Zurück in Szeged im Süden des Landes. Der Computerprogrammierer Balasz Szalai hat im Sommer seine Arbeit gekündigt. Er wollte den Tausenden Flüchtlingen helfen, die sich durch die Stadt schleppten, die eigentlich für die Universität und eine Wurstfabrik bekannt ist. Einmal hat er 16 Flüchtlingskinder in seinem alten Mercedes-Kombi über die Grenze transportiert.

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Balasz Szalai fordert mehr MenschlichkeitBild: DW/D. Cheslow

Nun ist der Grenzübergang versiegelt und die wenigen verbliebenen Flüchtlinge sind in einem Auffanglager in der Nähe untergebracht. Zweimal im Monat fährt Szalai in die nächstgelegene serbische Stadt und bringt denjenigen Flüchtlingen Spenden, die versuchen, in den Norden zu kommen. "Die gehen jetzt die längere Strecke. Das Problem ist aber nicht gelöst", sagt Szalai. Wir könnten das alles besser machen. Mit mehr Menschlichkeit als bisher."