Weißrussland: Reisetagebuch - Multimedial in Minsk | Newsletter & Co. | DW | 07.01.2010
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Weißrussland: Reisetagebuch - Multimedial in Minsk

Das Internet erlaubt Journalisten im autoritär regierten Belarus ein wenig Freiheit. Dennoch ist die Schere in den Köpfen der Journalisten ziemlich scharf, wie DW-AKADEMIE-Trainer Mathis Winkler feststellen musste.

Ein Schrank von Grenzbeamtin füllt die Tür zum Zugabteil. „Was? Keine belarussische Krankenversicherung?“, poltert sie und macht nicht den Eindruck, als ob sie dem nachlässigen Reisenden Einlass in „Europas letzte Diktatur“ gewähren will. Geht ja schon gut los mit den Schikanen. Doch die gute Frau drückt ein Auge zu. „Die Versicherung kaufen Sie sich aber schleunigst am Bahnhof in Minsk!“

Ich bin auf dem Weg ins Land von Alexander Lukaschenko, um einen Onlinejournalismus-Workshop für die DW-AKADEMIE vorzubereiten. Es ist unser erstes Seminar nach langjähriger Abwesenheit. Die zaghafte Öffnung der Minsker Machthaber nach Westen macht’s möglich. Ich erwarte – ja was eigentlich? Graue Häuser. Graue Menschen. Gedrückte, bedrückende Stimmung. Diktatur eben. Und den großen Führer im Bild an jeder Straßenecke.

Stattdessen stoße ich auf der Minsker Hauptschlagader, dem Prospekt Nesavisimosti, auf stalinistischen Zuckerbäckerstil. Die sandfarbene Zentrale des berüchtigten KGB, der nur hier noch so heißt, ist imposant, aber nicht unbedingt furchteinflößend. Vom Türmchen auf dem Dach kann man gut die Gegend überwachen. Oder die Fußballspiele im nahegelegenen Dynama-Stadion verfolgen.

Geschleckte Diktatur

Selbst der Palast der Republik ist in seiner Brutalität schon fast wieder schön. Eine gute Oper gibt’s hier auch – das Ballet soll sogar besser sein als in Moskau. Die Straßen sind geschleckt, es gibt kein Graffiti an den Häusern, alles geht seinen geregelten Gang. Als Bayer muss ich an München denken.

Die Deutschen wurden von den Sowjets für die komplette Zerstörung der Stadt während des zweiten Weltkriegs verantwortlich gemacht. Das stimmt sicherlich zum Teil. „Aber Stalin hat Minsk den Rest gegeben, um hier seine Idealvorstellung einer sozialistischen Stadt zu verwirklichen“, erzählt mir eine befreundete Journalistin beim Stadtrundgang. Mittlerweile sind ein paar historische Viertel wieder aufgebaut. Auch das alte Rathaus steht wieder, wirkt aber unecht, weil es einfach zu neu aussieht.

Doch zurück zum Thema. Der Workshop. Das Internet erlaubt Journalisten in Belarus noch ein bisschen Freiheit und deshalb wollen wir uns im Seminar eben auch um Onlinejournalismus kümmern. Doch wen einladen? Nur so genannte oppositionelle Journalisten? Oder auch Redakteure, die bei staatlichen Sendern arbeiten?

Resignation oder Arbeitswille?

Wir entscheiden uns für den Dialog und wollen das Training für beide Seiten öffnen. Als Veranstaltungsort bietet sich die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk an – ein belarussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt, das Grenzen überwinden will – auch die internen, die zwischen Opposition und Vertretern des Staates.

Alles läuft bestens: Wir bekommen – Dank Unterstützung der Partner vom IBB Minsk – die Einreiseerlaubnis für den Workshop und es bewerben sich interessante Leute für den Workshop. Am ersten Seminartag im Oktober bin ich dann trotzdem etwas nervös. Wie werden die Teilnehmer aufeinander reagieren? Wird es überhaupt zu einem Austausch kommen?

Die Sorgen verflüchtigen sich schnell, da anfängliche Berührungsängste in der Gruppe bald abgelegt werden. Letztendlich ist es die Teilnehmerin einer belarussischen Menschenrechtsorganisation, die eine Diskussion über Pressefreiheit im Land beendet: „Konzentrieren wir uns besser auf die journalistischen Inhalte!“ Es klingt ein bisschen wie Resignation. Nach dem Motto: Ändert ja eh nix.

Okay. Dann mal los mit Twitter, Facebook, Flickr und Soundcloud. Einige kennen sich im Internet schon gut aus – so sind zum Beispiel Chat-Programme wie Skype oder ICQ hier sehr beliebt weil der Geheimdienst sie schlechter abhören kann. Für manche in der Gruppe betreten wir jedoch Neuland.

Amor und Abriss

Die Heterogenität der Gruppe veranlasst mich und meinen Kollegen Guy Degen letztendlich zu einem radikalen Schritt: Wir schmeißen das Programm über den Haufen. Für den zweiten Teil des Workshops im Dezember wird das Seminar zur Redaktion: Die Teilnehmer arbeiten selbstständig an einem audiovisuellen Web-Spezial. So können wir besser auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingehen.

Die Themenvorschläge der Teilnehmer kann man nicht unbedingt als knallharten Journalismus bezeichnen: Frauen am Steuer. Eine Amor-Statue in der Provinz. Belarus beim Junior Eurovision Song Contest. Der mutigste Beitrag ist ein Spezial über den schamlosen Abriss von historischen Häusern. Aber wer will es den Teilnehmern verübeln in einem Land, in dem eine Zeitung schon eine Verwarnung von der Regierung erhält, weil sie die „falsche“ Schriftgröße benutzt?

Nach zwei Wochen intensiver Arbeit haben wir’s geschafft: Die Projekte sind fertig, Videos, vertonte Bildergalerien und interaktive Stadtpläne stehen im Netz. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe“, sagt eine Teilnehmerin, die bis jetzt mit Computern nicht all zu viel am Hut hatte, und betrachtet ihr fertiges Spezial zum Totengedenken in Belarus. „Ich kann eine Webseite bauen!“

In einem sind sich dann noch alle einig: „Ihr müsst wieder kommen. Und wir wollen wieder dabei sein!“ Na klar doch. Aber diesmal gleich mit Krankenversicherung. Die gibt’s auch am Flughafen – für vier Euro pro Woche.

Das Projekt wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und dem Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung für Belarus gefördert.

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