1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Waterloo: Wurden tausende Tote zu Dünger verarbeitet?

6. Juli 2022

Über 53.000 Soldaten starben in der Schlacht bei Waterloo, aber seltsamerweise wurden bis heute kaum Überreste gefunden. Laut einem britischen Archäologen könnten die Knochen zu Dünger verarbeitet worden sein.

https://p.dw.com/p/4DjnG
Gemälde von der Schlacht bei Waterloo
Bis heute wurden seltsamerweise keine Massengräber und kaum Überreste von den vielen Gefallenen gefunden.Bild: Ken Welsh/Design Pics/picture alliance

Es war einer der blutigsten Schicksalsschlachten in Europa: Am 18. Juni 1815 verlor die französische Armee unter Napoleon Bonaparte den entscheidenden Kampf gegen alliierte Truppen unter dem britischen Duke of Wellington und dem preußischen Feldmarschall Fürst Blücher. Am Ende lagen in dem kleinen Ort Waterloo, südlich von Brüssel, über 53.000 Männer tot auf dem Schlachtfeld.

Über 200 Jahre später hat ein Team um den britischen Archäologen Professor Tony Pollard jetzt ein vollständig erhaltenes Skelett in der Nähe eines ehemaligen Feldlazaretts auf dem historischen Schlachtfeld gefunden. Außerdem wurden die Überreste mehrerer amputierter Gliedmaßen entdeckt.  

Der Fund ist erstaunlich, weil bei Ausgrabungen bisher nur wenige sterbliche Überreste gefunden wurden. Von Massengräbern fehlt jede Spur. 

Professor Tony Pollard hat anhand von Briefen, Gemälden, Zeitungsartikeln und persönlichen Beschreibungen von zeitgenössischen Schriftstellern und Dichtern, Malern, Diplomaten und Schaulustigen rekonstruiert, was in den Tagen und Wochen nach der Schlacht in Waterloo geschah.

Bereits wenige Tage nach der Schlacht, so Pollard, "sobald sich der Schmauch gelegt hatte", kamen die ersten Schaulustigen und Plünderer nach Waterloo.

Nachgespielte Schlachtszenen bei den Feierlichkeiten zur Schlacht von Waterloo
Faszination Waterloo: Das Schlacht-Gemetzel wird regelmäßig "nachgespielt"Bild: Olivier Hoslet/dpa/picture alliance

In den bedrückenden Schilderungen berichten viele Zeitzeugen, dass auch die lokale Bevölkerung viele Tote vor dem Vergraben ihrer Kleider und Gegenstände beraubt hätte. "Viele kamen, um die Habseligkeiten der Toten zu stehlen, einige stahlen sogar Zähne, um sie zu Prothesen zu verarbeiten, andere kamen einfach, um zu beobachten, was passiert war", erklärt Pollard.

Unter den Besuchern waren laut Pollard auch zahlreiche Knochenhändler. "Die Schlachtfelder Europas waren günstige Bezugsquellen für Knochen", so der Direktor des Zentrums für Schlachtfeldarchäologie an der Universität Glasgow im Fachblatt "Journal of Conflict Archaeology".

Knochen als begehrte Düngemittel in der Landwirtschaft

"In mindestens drei Zeitungsartikeln aus den 1820er Jahren wird die Einfuhr menschlicher Knochen von europäischen Schlachtfeldern zur Herstellung von Dünger erwähnt", so der Archäologe Pollard.

"In den zwei Jahrzehnten nach der Schlacht von Waterloo lieferten die europäischen Schlachtfelder einen reichen Vorrat an Knochenmaterial, das zu Knochenmehl zermahlen werden konnte", so Pollard. "Dieses Knochenmehl diente vor der Entdeckung der Superphosphate in den 1840er Jahren als Dünger."

Gemälde von der Schlacht bei Waterloo 1815
Zeitzeugen berichteten, dass die ausgehobenen Massengräber gar nicht für all die Leichen ausreichtenBild: The Print Collector/Heritage-Images/picture alliance

Ähnlich verfuhr man offenkundig auch mit den Gefallenen der "Völkerschlacht bei Leipzig", bei der 1813 eine Allianz aus Truppen von Preußen, Österreich, Schweden und Russland über Napoleon Bonaparte gesiegt hatte. Bei dieser "Völkerschlacht" fielen rund 92.000 der etwa 600.000 beteiligten Soldaten.

Eine englische Zeitung berichtete im November 1829, dass ein schottischer Landbesitzer einen ganzen Frachter, beladen mit Knochen vom Leipziger Schlachtfeld, erworben hatte, um sie zu Knochenmehl-Dünger verarbeiten zu lassen. 

Detaillierte Augenzeugenberichte

Vor allem viele Engländer zog es zu dem berühmten Schlachtfeld, wo Napoleon Bonaparte seine vernichtende Niederlage erlitten hatte, die zu seiner Abdankung und zum Ende des Französischen Kaiserreichs führte. "Sein Waterloo erleben" - diese Redewendung steht bis heute als Synonym für eine totale Niederlage.

In den detaillierten Aufzeichnungen, Schilderungen und Gemälden, die Schriftsteller und Dichter, Maler, Diplomaten und Schaulustige vom Schlachtfeld in Waterloo anfertigten, berichteten die Zeitzeugen von gewaltigen Leichenbergen, die kaum zu bewältigen waren. Wo es ging, wurden die Gefallenen in Massengräbern oder in vorhandenen Gräben auf dem Schlachtfeld begraben.

Riesige Leichenberge

Oftmals aber wurden die Leichen wohl verbrannt. So berichtete die Engländerin Charlotte Eaton, dass die ausgehobenen Massengräber gar nicht für all die Leichen ausreichten: "Die Gruben waren gegraben, aber ihre Füllung ragte über die Bodenoberfläche hinaus", schrieb Eaton, die selbst 1815 in Brüssel lebte. "Diese entsetzlichen Haufen wurden daher mit Holz bedeckt und angezündet."

Dass viele Leichen eher verbrannt als begraben wurden, schilderte auch der schottische Kaufmann James Ker, der von seiner Wahlheimat Brüssel aus Waterloo unmittelbar nach der Schlacht besuchte: "Auf der französischen Seite des Felds war der Gestank so schlimm, dass man es für vernünftig hielt, die Toten, Männer und Pferde, aus Mangel an Zeit und Helfern zu verbrennen statt sie zu begraben."

Wurden die Massengräber später geplündert?

Archäologe Pollard hält es für unwahrscheinlich, dass noch Massengräber gefunden werden. "Ungeachtet der künstlerischen Freiheit und der Übertreibung bei der Zahl der Leichen in den Massengräbern wurden die Körper der Toten eindeutig an zahlreichen Orten auf dem Schlachtfeld entsorgt, so dass es einigermaßen überraschend ist, dass es keine verlässlichen Aufzeichnungen über die Entdeckung eines Massengrabs gibt", erklärt Archäologe Pollard.

Familie beobachtet nachgespielte Schlacht bei Waterloo
Die nachgespielten Kampfszenen locken regelmäßig Besucher aus aller Welt nach WaterlooBild: Photoshot/picture alliance

Anhand der Augenzeugenberichte und Bilder lassen sich die mutmaßlichen Massengräber eigentlich gut lokalisieren: In Frage kommen das Gebiet um Hougoumont, ein Gebiet nahe La Haye Sainte und eine Sandgrube bei La Belle Alliance.

Allerdings wurden diese Stellen bereits von Archäologen ausführlich mit Testgrabungen und Bodenradar untersucht - vergeblich. Massengräber oder Verbrennungsstätten wurden nicht gefunden. "Insgesamt haben die Untersuchungen keine Belege für Grabgruben zeigen können, weder in Form menschlicher Relikte wie Knochen noch von erkennbaren Gruben", schreibt Pollard. "Ein Grund für diesen Mangel an Gräbern kann die Verbrennung der Toten sein, aber selbst dies kann nur einen Teil der unzähligen verschwundenen Relikte erklären."

Nach Ansicht des britischen Archäologen ist es durchaus möglich, dass Ortsansässige den Knochenhändlern die Lage der Massengräber gezeigt und ihnen auch beim Abtransport geholfen hätten. "Einheimische hätten den Agenten die Standorte der Massengräber zeigen können, da sich viele von ihnen lebhaft an die Bestattungen erinnern oder sogar bei den Ausgrabungen geholfen haben könnten."

Schließlich war der Handel mit Knochen ein lukratives Geschäft, kamen die Knochengräber doch in den Massengräbern vergleichsweise einfach an sehr viele Knochen.

Das Waterloo Museum mit dem Löwen-Denkmal
Massengräber oder Verbrennungsstellen wurden rund um die Waterloo-Gedenkstätte nicht gefunden.Bild: Jean-Luc Flémal/dpa/picture alliance

Suche wird fortgesetzt

Aus heutiger Sicht ist es allerdings sehr verwunderlich, dass eine derart pietätlose Störung der Totenruhe einfach hingenommen oder einfach totgeschwiegen wurde. Laut Pollard sei in den Aufzeichnungen "nirgendwo eine Aushebung der Massengräber in großem Stil kommentiert worden".

Klarheit wird es wohl erst geben, wenn die beschriebenen Massengräber oder zumindest Spuren davon gefunden werden. "Wenn menschliche Überreste in dem vermuteten Umfang entfernt wurden, sollten in einigen Fällen noch archäologische Beweise für die Gräber vorhanden sein, aus denen sie entnommen wurden", so Pollard.

"Als Nächstes geht es zurück nach Waterloo", erklärt der Direktor des Zentrums für Schlachtfeldarchäologie an der Universität Glasgow. Der Archäologe will dort auf Grundlage der zeitgenössischen Aufzeichnungen, mit eigenen Ausgrabungen und Bodenmessungen noch vorhandene Grabstätten finden. Vielleicht bringt dies ja Gewissheit, was mit den vielen Gefallenen von Waterloo tatsächlich geschah.

Aktualisiert am 15.07.2022

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund