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Entlang der Mauer

Jefferson Chase9. November 2015

Sie ist nicht mehr da. Und doch ist sie Touristenmagnet. Die Mauer. Neben den Selfie-Hotspots gibt es auch die stillen, unbekannten Orte. Reporter Jefferson Chase macht sich ein Bild.

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Bild: DW/J. Chase

Mitte Oktober 1989 besuchte ich Berlin, um die Mauer anzuschauen. Im Mai 1990 war ich wieder in der Stadt, von der Mauer war nur noch Stahl und löchriges Beton über. Sie war so gut wie weg. 26 Jahre ist der Fall der Mauer her und ich frage mich, was die Touristen, die jetzt nach Berlin kommen, um die Reste des "antifaschistischen Schutzwalls" zu besuchen, noch zu sehen bekommen.

Also schwinge ich mich aufs Rad und fahre als erstes zu dem bekanntesten "Reststück" der Berliner Mauer, der East Side Gallery. Sie erstreckt sich über 1315 Meter entlang der Spree. Dort ist Mauerkunst zu besichtigen, unter anderem die bunten Köpfe von Thierry Noir. Sie gehören zu den "greatest hits" der Mauer-Graffitis und wirken immer noch sehr frisch. Schon in den 80er Jahren prangten diese Motive auf der Mauer - allerdings auf der Westseite.

Die East Side Gallery ist nicht echt, sie ist ein Remake. Eine Erinnerung an die Mauerkunst, die für die West-Berliner das Leben mit der grauen, feindlichen Wand erträglicher machte. Nur auf der Westseite war die Mauer bunt. Was heute so farbenfroh leuchtet, war ein Stück Hinterlandmauer auf der Ostseite und monochrom grau, bedrohlich und unmenschlich. Bunt wurde dieses Mauerstück erst 1990 durch ein Kunstprojekt. 118 Künstler aus 21 Ländern waren eingeladen sich zu verewigen.

Busse halten, spucken Touristen aus, Foto, Selfie, einsteigen und weiter. Der Touristenansturm ist so groß, dass die Mauer jetzt sogar vor den Menschenmassen geschützt werden soll. Eine 80 bis 90 Zentimeter hohe Absperrung ist geplant, Hinweisschilder in verschiedenen Sprachen sollen Besucher davon abhalten, die Kunstwerke mit Botschaften wie "Bob was here" zu bekritzeln. Eine Mauer für die Mauer - Ironie der Geschichte.

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Angekommen im 21. Jahrhundert - Die MauerBild: DW/J. Chase

Das Angsteinflößende, Bedrohliche der Mauer - es ist verblasst, nein sogar verschwunden. Die Mauer ist coole Deko. Dazu passt die Tatsache, dass sich jetzt eine Diskothek, ein Hostel, eine Wurstbude und ein Souvenirshop auf dem ehemaligen Todesstreifen befinden. Man kann auch dort wohnen: In dem "Living Levels", einem neuen 14-stöckigen Luxus-Hochhaus.

Ein Baumhaus an einer Betonwand

Ich fahre weiter, lasse die Touristenmassen hinter mir, überquere die Spree, dann den Engeldamm entlang. Rechts von mir der Osten, links der Westen. Oft zerstörte die Mauer historische Stadtstrukturen, hier folgte sie ihnen. Denn die DDR-Behörden ließen ihren Schutzwall auf dem zum größten Teil schon trocken gelegten Luisenstädtischen Kanal bauen. Genau hier begann ein älterer türkischer Migrant in den 80er Jahren unter den Augen der DDR-Grenzsoldaten friedlich zu gärtnern und schuf den wohl skurrilsten Schrebergarten West-Berlins.

Auf einer 350 Quadratmeter-Brache direkt an der Mauer pflanzte Osman Kalin Knoblauch und Zwiebeln. Was er nicht wusste, war, dass er gerade ein Stück DDR beackerte, das beim Mauerbau ausgelassen wurde. Ein Stück Osten im Westen also. Komplizierte Situation, aber es gab eine einfache Lösung. Das Zentralkomitee der SED ließ ihn gewähren. Mit der Zeit zimmerte dieser Pionier der Guerilla-Garten-Bewegung sich auch eine kleine Hütte aus Sperrholz zusammen. Sein Baumhaus hat die Mauer überlebt. Das stimmt mich irgendwie optimistisch.

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Osman Kalins Baumhaus in KreuzbergBild: DW/J. Chase

Aus dem ehemaligen Todesstreifen ist ein schmaler, zugewachsener Park geworden, der in einem Teich mit Schilf und Schwänen mündet, dem Engelbecken. Dort mache ich Pause in einem Café. Von der Terrasse aus sieht man sehr klar die architektonischen Spuren der Trennung Berlins. Rechts auf der Ostseite stehen ausschließlich Neubauten inklusive eines Plattenbaus, links dominieren die für das westberlinerische Kreuzberg typischen Altbauten der Gründerzeit.

Geschichtsschrott und Infosäulen

Die Hauptstätte der Mauer in Kreuzberg ist aber Checkpoint Charlie, der nächste Halt auf meiner Radtour. Nur noch ein Kopfsteinpflasterstreifen erinnert hier an die Mauer. Dafür kann man gegen Eintritt ein 15 Meter hohes Mauer-Panorama-Bild bewundern. Draußen auf einer Verkehrsinsel simulieren Laien-Soldaten Kalten Krieg. Laien-Amerikaner und Laien-Russen posieren für Erinnerungsfotos mit Mauertouristen vor dem berühmten ehemaligen Wachhaus an dem berühmten ehemaligen Grenzübergang. Die Soldaten sprechen allerdings deutsch - und das sogar mit osteuropäischem Akzent. Die Darstellung der Vergangenheit des Checkpoints hat ungefähr so viel mit seriöser Erinnerungskultur zu tun wie die naheliegenden Dönerschuppen mit türkischer Küche. Mauer Disney World.

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Das Geschäft mit der Mauer - nirgendwo wird es deutlicher als am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint CharlieBild: DW/J. Chase
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Am Checkpoint Charlie wird die Mauer als multimediale Show gezeigtBild: DW/J. Chase

Am anderen Ende der Friedrichstraße, wo die Bernauer Straße die Stadtteile Mitte und Wedding trennt, wird Geschichte durchaus ernster genommen. Hier sieht man Mauerreste ohne dekorative Westgraffiti, auf dem Todesstreifen bieten frei stehende Säulen Video- und Audio-Informationen über die Vergangenheit. In den Boden eingelassene Metallkreise erinnern an diejenigen, die bei Fluchtversuchen ihr Leben eingebüßt haben. Das erste Todesopfer hieß Ida Siekmann. Sie war 58 Jahre alt und sprang lieber aus dem Fenster ihrer Wohnung als die Obhut des Arbeiter- und Bauernstaates zu genießen.

Das Ende der Berliner Mauer

Die Gedenkstätte Berliner Mauer, wie das ganze Areal heißt, ist ein Muss für alle Geschichtsinteressierten und zieht einen kontinuierlichen Strom Touristen an, viele auf dem Rad wie ich. Dennoch: Das Beklemmende der real existierenden Mauer kann eine Gedenkstätte im Jahr 2015 kaum vermitteln. Ich fahre weiter zu dem Ort, an dem das Ende des Schutzwalls angefangen hat.

Berliner Mauer-Gedenkstätte
Die Gedenkstätte Berliner MauerBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Der Grenzübergang Bornholmer Straße an der Bösebrücke wurde am 9. November 1989 als erster geöffnet. Heutzutage gibt es da ein kleines Stück Mauer und ein paar Fotos zu sehen. Auf dem Todesstreifen befindet sich eine Allee mit Kirschbäumen, die von einem japanischen Fernsehsender gespendet wurden, in der Hoffnung, sie mögen Berlin Friede und Ruhe bringen. An der Stelle des ehemaligen Grenzkontrollgebäudes steht ein Lidl.

Von der Brücke habe ich einen schönen Blick auf die Altbauten im östlichen Prenzlauer Berg sowie auf die sozialen Wohnungsblocks der 60er Jahre im westlichen Wedding. In der Nacht des 9. November 1989 strömten tausende Ossis in den Westberliner Bezirk, der vielen Wessis als Inbegriff eines Ghettos gilt. In den beiden Dekaden danach zogen Tausende von Wessis nach Osten, in den Prenzlauer Berg, angelockt von schönen billigen Altbauten und zahlreichen Kitas. Nun sei der Wedding wieder im Kommen, liest man fast wöchentlich. Da finde man das alte Berlin. Kreativ wenn auch etwas kaputt. Edgy wie man heutzutage so sagt.

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Bei der Bösebrücke erinnert nur ein historisches Foto an die MauerBild: DW/J. Chase

Man kann sich in vielen Hinsichten über den Gang der Geschichte beklagen, aber eins kann ihr nicht vorgeworfen werden: an Ironie mangelt’s ihr nicht.