1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Deutschen und ihre Hits

Julia Tompkin / pj 31. Mai 2015

Vom Fall der Mauer bis hin zum WM-Sieg haben die deutschen Charts die Stimmung im Land über ein halbes Jahrhundert widergespiegelt. Aber was verraten sie über uns?

https://p.dw.com/p/1FZBb
Publikum beim Musikantenstadl
Bild: imago/STAR-MEDIA

Musik bringt uns zum Lachen und zum Weinen. Sie kann der Soundtrack eines Triumphs und der Ausdruck unsagbaren Schmerzes sein. Sie wurde von despotischen Regimes genutzt und war gleichzeitig der Ruf der Freiheit. Kaum eine andere Kunstform bringt die Stimmung eines Menschen, ja sogar eines ganzen Landes so gut auf den Punkt wie seine Musik.

"Musik verleiht dem Universum eine Seele, dem Geist Flügel, der Fantasie Flugkraft, der Traurigkeit einen Zauber und allen Dingen Freude und Leben", schrieb einst Platon. Die Fähigkeit der Musik, jenseits von scheinbar flüchtigen Trends unsere Stimmung zu kanalisieren und sogar zu verändern, wurde zur Genüge bewiesen – von Fachrichtungen wie der Neurowissenschaft bis hin zur Musikwissenschaft, Psychologie oder Anthropologie.

Musik als Spiegel der Gesellschaft

Unser Musikgeschmack verrät viel über uns als Individuen, aber genauso viel über uns als Kollektiv und Nation. Seit 55 Jahren sind die Offiziellen Deutschen Charts das Barometer des emotionalen Zustands unseres Landes, seiner Sorgen und auch seiner Sorglosigkeit. Die Hitparaden wurden im Mai 2015 generalüberholt und beziehen nun auch die Zahlen der Streamingdienste und mehr Musikgenres mit ein, um die musikalischen Erfolge hierzulande realistischer abbilden zu können.

Ein Blick auf die meistverkauften Singles und Alben der deutschen Charts-Geschichte deckt eine Schwäche auf, die die meisten Deutschen wohl lieber für sich behalten würden: ihre unerschöpfliche Liebe zu kitschiger Schlagermusik. Entgegen ihres Rufs, grimmig, streng und krankhaft ordnungsbesessen zu sein, zeigen die Hitparaden eine ganz andere Seite: Die Deutschen schwingen gern das Tanzbein.

Der Deutschen liebstes Kind: der Schlager

Das stets leicht überspannte Schlagergenre ist der typische Soundtrack zur Après-Ski-Party, samt billiger Beats und peinlicher Mitgröhl-Refrains. Und die Deutschen können scheinbar nicht genug von ihren zuckersüßen Party-Hymnen bekommen: Die regierende Schlagerkönigin Helene Fischer hat mit "Farbenspiel" und ihrem "Best Of" zwei der meistverkauften Alben hierzulande veröffentlicht.

18.12.2014 DW popXport Helene Fischer
Unbestrittene Schlager-Queen: Helene FischerBild: Universal-Music

Auch in den Singlecharts war ein Schlager der erfolgreichste Song aller Zeiten: Als DJ Ötzi & Nik P. 2007 "Ein Stern (… der deinen Namen trägt)" herausbrachten, kletterte der Track direkt auf die Eins und blieb dort 13 Wochen lang. Der Österreicher DJ Ötzi war auch für den internationalen Partykracher "Hey Baby" verantwortlich, der 2000 herauskam und zwei Jahre später zur inoffiziellen WM-Hymne wurde.

Das Magazin "Musikmarkt" veröffentlichte 1959 mit seiner Hitparade die ersten deutschen Singlecharts. Sie mauserten sich schnell von einem monatlichen Infoservice zur wöchentlich erscheinenden Institution. Das erste Nummer-1-Album der deutschen Geschichte war in jenem Jahr der Soundtrack zum Broadway-Musical "My Fair Lady" – vielleicht ein Zeichen dafür, dass Deutschland 14 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder gelernt hatte, zu lächeln.

Im Namen der Freiheit

Doch fröhliche Lieder konnten die physische Teilung des Landes, den Bau der Mauer, nicht abwenden. Der absurde und verwirrte Zeitgeist jener Zeit manifestierte sich in der Nummer-1-Single "Babysitter Boogie" von Ralf Bendix, gefolgt vom Kracher "Babysitter Twist." Bendix zog später nach Monaco und lebte von den Tantiemen, die seine Songs abwarfen.

Hasselhoff protestiert für Erhalt der East Side Gallery
David Hasselhoff bei einer Demo für den Erhalt der East Side Gallery im Jahr 2013Bild: Reuters

Aber wo Leben ist, da ist bekanntlich Hoffnung. 1989 manifestierte sie sich im Fall der Mauer. Während David Bowie und Pink Floyd sich zu Recht auf die Fahnen schreiben dürfen, den Soundtrack zur Wende geliefert zu haben, kam das Gesicht des Wandels aus einer Nachmittagsserie: "Baywatch"-Darsteller David Hasselhoff wurde vom Serienhelden zum Helden einer Nation (wenn auch – frei nach Bowie – nur für einen Tag). Völlig ahnungslos hatte er mit "Looking For Freedom" die Jubelstimmung eines ganzen Landes erfasst. Die Single wurde der größte Hit des Jahres, und Hasselhoff eroberte sich seinen Platz in der deutschen Geschichte mit seinem Auftritt in der Silvesternacht 1989/90 am Ort des Geschehens: direkt an der Mauer.

Die 90er Jahre: Wendezeit und der Tod Dianas

In den Folgejahren spiegelte sich auch die langsame und oft schwierige Annäherung zwischen Ost und West in den Plattenkäufen der Deutschen, so auch in dem berühmten Scorpions-Song "Wind Of Change" von 1991. Die Single katapultierte auch gleich den passend betitelten Longplayer "Crazy World" an die Spitze der Charts.

Sendung Popxport 20.02.2015 Scorpions
Seit 50 Jahren Rock: die Scorpions aus HannoverBild: Oliver Rath

In der DDR hatte es keine offizielle Hitparade mehr gegeben. Stattdessen konnten die Leute in Radio- und TV-Shows wie "Tip-Disko" und "Beatkiste" Stimmen für ihre Lieblingshits abgeben. Die Wiedervereinigung war also auch eine Wiedergeburt der gemeinsamen Charts, die heute auf Daten wie Verkäufen, Downloads und Streamings beruhen.

1997 verbreiteten die Medien die schockierende Nachricht, dass Lady Diana, Prinzessin von Wales, an den Folgen eines Autounfalls in Paris ums Leben gekommen war. Die Deutschen trauerten gemeinsam mit dem Rest der Welt um die tote Prinzessin, und ihr kollektiver Schmerz spiegelte sich an der Spitze der Singlecharts wider: "Time To Say Goodbye" von Sarah Brightman und Andrea Bocelli auf der Eins, gefolgt von Puff Daddy und Faith Evans mit "I'll Be Missing You" und Elton Johns Abschieds-Ode "Candle In The Wind".

Musik für Hochs und Tiefs

In Deutschland hat die politische Satire schon seit Jahrhunderten einen großen Stellenwert. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 trotz unbeliebter Steuererhöhungen überraschend wiedergewählt wurde, reagierte das Volk mit Musik, indem es den "Steuersong" aus der Satiresendung "Die Gerd-Show" zur bestverkauften Single des Jahres machte. Auf das Jahr der billigen Lacher folgte eines der Reflektion, als nach dem 11. September 2001 Enyas "Only Time", das bereits von zahlreichen Radiosendern in den USA als die am besten zur Trauerstimmung passende Ballade rauf und runter gespielt worden war, auch in Deutschland ganz oben in den Charts stand.

Bildergalerie Deutschland Jahresrückblick 2014
Helene Fischer und die deutsche Elf bei der Weltmeisterfeier in Berlin 2014Bild: picture-alliance/dpa/J. Wolf

So wie Musik Trost in traurigen Zeiten spendet, kann sie auch die Freude über Triumphe vergrößern. Und es gibt wohl wenige Triumphe, die in Deutschland mit einem WM-Sieg mithalten können. Aus dem Jahr 1954 sind leider keine Daten überliefert, aber 1974 wurde die landesweite Ekstase vom Feel-Good-Hit "Sugar Baby Love" der Rubettes repräsentiert, während 1990 Matthias Reims stampfender Hit "Verdammt, ich lieb‘ dich" die deutschen Diskos zum Kochen brachte.

2006 war ganz Deutschland als Gastgeberland im WM-Fieber, was sich auch in den Top Ten zeigte: Nicht weniger als vier Songs mit Fußballthematik schafften es unter die ersten Zehn: Bob Sinclair war mit "Love Generation" auf Platz eins, auf der Fünf folgten Sportfreunde Stiller mit der unerfüllten WM-Hymne "‘54, '74, '90, 2006".

21.11.2014 DW popXport Andreas-Bourani
Schwimmt spätestens seit seinem Hit "Auf uns" auf der Erfolgswelle: Andreas BouraniBild: Mathias Bothor

Und wie konnte das Land seinen WM-Sieg 2014 besser feiern als mit… Helene Fischer? Sie führte sowohl die Single- als auch die Albumcharts des Jahres an und brachte die beiden großen Lieben Deutschlands, Fußball und Schlager, zusammen. Ihr Megahit "Atemlos durch die Nacht" klang ähnlich euphorisch wie "Auf uns" ihres Sängerkollegen Andreas Bourani, und beide performten ihre Hits bei der Willkommensfeier der Spieler in Berlin. Wie schrieb Heinrich Heine so schön? "Musik beginnt da, wo Worte enden."