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Das Schöne in der Literatur

15. April 2010

Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus im Interview mit DW-WORLD.DE über Blondinen in Griechenland, den Federschmuck von Pfauen und die Fatalität guten Aussehens.

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Michelangelos David-Statue in Florenz (Foto: dpa)
Bild: dpa - Fotoreport

Der Spiegel betitelte ihn 2007 als eine der herausragenden zeitgenössischen "Geistesgrößen". Winfried Menninghaus ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin und lehrt in regelmäßigen Abständen als Gastprofessor an der renommierten Yale University in New Haven. 2003 schrieb er die Abhandlung "Das Versprechen der Schönheit"*, in der er das Geheimnis der Schönheit nicht nur anhand der griechischen Antike und der Psychologie Sigmund Freuds, sondern auch mit Hilfe der Darwinschen Evolutionstheorien zu ergründen suchte.

DW-WORLD.DE: Herr Menninghaus, ist Schönheit eine neue oder eine alte Idee?

Winfried Menninghaus: Ich denke, es ist ein sehr altes ästhetisches Konzept. In den meisten Sprachen gibt es ein Wort für "Schönheit" – und dieses Wort wird oft sowohl auf Körper als auch auf Artefakte bezogen. Die Bezugnahme auf sexuelle Körper ist aber zentral für die Kategorie. Denken Sie an die griechische Überlieferung. Natürlich ist Helena "schön". Und genau so werden begehrte Jünglinge mit dem Attribut "schön" gepriesen.

Sie beginnen Ihr Buch "Das Versprechen der Schönheit" mit dem weiblichen Begehren nach Adonis, dem Jüngling, der so schön ist, dass sich selbst die Liebesgöttin Aphrodite in ihn, den Sterblichen verliebt. Ist Adonis der erste schöne Mann der Literatur?

Er ist jedenfalls einer der bekanntesten schönen Männer der griechischen Antike. In den großen Werken der griechischen Literatur wird die Schönheit von Menschen in aller Regel aber nicht beschrieben. Sie wird nur behauptet oder mittels eines einzigen Standardmerkmals evoziert. Adonis wird schlicht als "kalós" bezeichnet, mit dem griechischen Wort für "schön". Alles Weitere muss sich der Hörer/Leser selbst denken. In anderen Fällen wird der Imagination mit einem einzigen Attribut nachgeholfen: eine schöne Frau hat dann etwa "goldenes Haar" oder "schlanke Fesseln". Mehr Details werden nicht gegeben.

Warum gerade diese Zuschreibungen?

Es wird etwas betont, das als relativ selten gilt. Schönheit ist ein Auszeichnungsmerkmal. Etwas, das alle erfüllen, wird niemals schön genannt. Ganz besonders in einer vorwiegend dunkelhaarigen Bevölkerung kann Blondheit dann eine Auszeichnung sein.

Welches Weiterleben haben die schöne Helena, Adonis oder auch der beim Anblick seiner eigenen Schönheit in sich selbst verliebende Narcissus in der Literatur gefunden?

Sie bleiben mehr als 2000 Jahre die Prototypen schöner Figuren in der westlichen Literatur, gewinnen aber im Mittelalter und in der Neuzeit neue Qualitäten hinzu. Narcissus wird dann zum Beispiel zur Künstlergestalt, was er bei Ovid durchaus nicht ist. Die menschlichen schönen Figuren, die in der Antike im Gegensatz zu den Göttern ja relativ blass waren, werden geistig aufgewertet. Zugleich bleiben sie meist, was sie schon in der Antike sind: nämlich auf eine sehr gefährdete, sehr prekäre Art und Weise schön. Das Gefährdetsein ist aber auch ein Merkmal der Schönheit selbst, denn sie existiert nicht ewig, und gerade ihre Flüchtigkeit erhöht ihren Wert.

Die schönsten Jünglinge der Antike sterben alle sehr früh. Heißt das, dass nur die Jugend schön ist?

Das "forever young" ist das Privileg der griechischen Götter. Wenn man nicht das Privileg der Götter hat, immer wie 23 auszusehen, dann ist es gut früh zu sterben, auf der Höhe der Schönheit. Nur so kann das Schönheitsidol weiterleben.

In der modernen Literatur sind zwei Gestalten des 19. Jahrhunderts in Hinblick auf Schönheit und Tod besonders interessant. Das ist einmal das Geschöpf von Frankenstein. Wo immer in der Geschichte von Mary W. Shelley dieses ästhetisch misslungene künstliche Geschöpf auf Menschen trifft, erfährt es größte Ablehnung und Ausgrenzung. Das Monster wird nur zum Mörder, weil es aufgrund seines Aussehens von niemandem akzeptiert oder gar geliebt wird. Der Roman zeigt: auch das zunächst wohlmeinendste Wesen hat in unserer Welt keine Lebenschancen, wenn es zu sehr von Aussehensidealen abweicht. Das andere Extrem findet sich Ende des 19. Jahrhunderts in Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Dorian Gray wird zum Mörder, weil er so schön ist, weil seine Schönheit ihm Nachsicht für schlimmstes Verhalten verschafft. Wenn Sie beide Figuren zusammenlesen, haben Sie die beiden Pole einer Fatalität der Schönheit.

Das Gemälde von Hendrick Goltzius zeigt Venus und Adonis (Foto: Alte Pinakothek)
Venus versucht ihren Geliebten Adonis von der Jagd zurückzuhalten (Hendrick Goltzius, 1558-1617)Bild: picture-alliance / akg

Denken Sie, ein gut aussehender Mensch kommt in unserer heutigen Welt weiter als ein weniger attraktiver?

Ich bin da sehr skeptisch. Gewiss zeigen etliche Studien, dass gutes Aussehen mit einer Reihe positiver Persönlichkeitszuschreibungen verbunden wird. Aber viele dieser experimentell gemessenen Effekte sind nur mit großen Einschränkungen auf die Realität übertragbar. Natürlich fördern Kosmetik und Schönheitsindustrie die Überzeugung, dass sie ihr Lebensglück entscheidend verändern könnten, wenn sie noch weiter an der Schraube des Aussehens drehen. Ich glaube, dass diese Annahme eine Falle ist, eine schädliche Falle überdies, in die sehr viele heute tappen.

Spielt angesichts all der Werbung, die uns umgibt, die Literatur überhaupt noch eine Rolle bei unserer Vorstellung von Schönheit?

In der Literatur wird Schönheit von Personen primär imaginativ erlebt. Das bloße Wort "schön" gibt einem Leser wesentlich mehr Raum zum Phantasieren als eine hoch ausgeleuchtete Farbfotographie. Heute gibt es eine Tendenz, Schönheit sehr nüchtern in genauen physischen Maßen wie dem Body Mass Index zu erfassen. Deswegen kommen die großen Schönheitsfantasmen auch nicht mehr aus der Literatur. Eine bilderlose Helena und ein visuell völlig merkmalsloser Adonis haben keine Chancen mehr, mythisch zu werden. Ich sehe keine Anstrengungen der zeitgenössischen Literatur, in puncto Schönheitsideale noch mit den visuellen Medien in Konkurrenz zu treten.

Ist heute das Arbeiten an der eigenen Schönheit wichtiger als in früheren Kulturen?

Es gab schon immer und in jeder überlieferten Kultur aufwendige, ja extreme Praktiken der Selbstverschönerung. Schon vor über 100.000 Jahren haben Menschen sich selbst bemalt, vor mehr als 10.000 Jahren gab es schon weit entwickelte Praktiken der gezielten, mit Sicherheit sehr schmerzhaften Verformung von Kopf, Zähnen usw.. Solche Praktiken unterscheiden uns Menschen von den Schönheitswettkämpfen im Tierreich. Wie Darwin erkannt hat, spielen auch bei vielen Tierarten bestimmte Aussehensvorzüge eine enorm wichtige Rolle. Denken Sie an den Federschmuck von Pfauen. Er konnte sich nur herausbilden, da offensichtlich Tiere mit jeweils besser ausgeprägten Ornamenten sexuell bevorzugt wurden. Das Neue beim Menschen ist, dass wir als kulturelle Spezies Techniken entwickelt haben, unser eigenes Aussehen zu verändern. Eben dies tun Menschen in großem Stil spätestens seit 50.000 Jahren, vermutlich weit länger. Schönheit und Selbstverschönerung waren aber immer nur eines neben anderen wichtigen Bestandteilen der sozialen Kommunikation. Heute, so scheint mir, verlieren andere Faktoren relativ an Gewicht. Das könnte bedeuten, dass der Faktor Aussehen in der Tat eine größere Bedeutung bekommt als in früheren Kulturen.

Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann

Redaktion: Sabine Oelze

*Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Suhrkamp,13 €