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Vollständig Gelähmter kann wieder kommunizieren

4. April 2022

Sensationeller Durchbruch: Laut einer Studie aus Deutschland konnte ein vollständig Gelähmter mittels Gehirnimplantat seine Wünsche kommunizieren - allein durch die Vorstellung einer Bewegung.

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Illustration des menschlichen Gehirns
Mithilfe des Implantats kann der Patient Gehirnströme steuernBild: Zoonar/picture alliance

Es ist ein Durchbruch in den Neurowissenschaften und ein Hoffnungsschimmer für Betroffene und ihre Angehörigen: Ein vollständig Gelähmter kann dank eines Gehirnimplantates wieder kommunizieren.

Der Mann leidet unter einer besonders schweren Form des Locked-In-Syndroms, bei dem Patienten bei klarem Bewusstsein im eigenen Körper eingesperrt sind. Ihre gesamte Körper-, Gesichts- oder Sprechmuskulatur ist wie beim Wachkoma gelähmt, aber sie können hören und sehen.

Verursacht wird das sehr seltene Locked-in-Syndrom (LIS) durch eine schwere Schädigung des Hirnstamms, etwa in Folge einer Schädel-Hirnverletzung, eines Schlaganfalls oder einer neurologischen Erkrankung.

Gefangen im eigenen Körper

Da aber das Großhirn nicht geschädigt ist, können die Patienten klar denken und teilweise über vertikale Augenbewegungen mit der Außenwelt kommunizieren. Wenn aber auch solche Augenbewegungen nicht mehr möglich sind, spricht man von einem vollständigen Locked-in-Syndrom (completely locked-in syndrome, CLIS).

Unter solch einem CLIS leidet auch der 1985 geborene Studienteilnehmer, der infolge einer ALS jegliche Kontrolle über seine Muskelaktivitäten verloren hat. Eine Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine unheilbare, schwere Erkrankung des Nervensystems, bei der schrittweise alle Nervenzellen geschädigt werden, die für die Kontrolle und Steuerung von Muskeln und Bewegungen zuständig sind.

Hirnimplantat ermöglicht Kommunikation

Um dem Betroffenen die Kommunikation mit der Außenwelt zu ermöglichen, hatte ihm ein internationales Team um den Neurologen Niels Birbaumer von der Universität Tübingen im März 2019 ein Brain-Computer-Interface (BCI) implantiert, das es dem Hirn ermöglicht, Befehle an Schaltkreise weiterzugeben und so Apparaturen zu steuern.

Dies erforderte laut Studie allerdings ein sehr langes Training und viel Ausdauer bei allen Beteiligten, denn es gibt bislang erst sehr wenig Erfahrungen mit Brain-Computer-Interfaces.

Physiker Stephen Hawking 2016
Physiker Stephen Hawking musste wegen seiner ALS-Erkrankung mithilfe eines Sprachcomputers kommunizieren Bild: Niklas Halle'n/AFP/Getty Images

Zunächst musste das BCI lernen, die Gedanken des Patienten zu verstehen. Da der Patient seine Augen nicht mehr steuern konnte, musste er sich die unterschiedlichen Augenbewegungen vorstellen. Allein durch seine Vorstellung an unterschiedliche Bewegungen aktivierte er bestimmte Hirnströmungen, die das BCI wiederum in Tonsignale umwandelte. Mittels künstlicher Intelligenz schlägt ein sogenannter "Speller" dem Patienten dann Buchstaben vor.

Der Patient konnte so aber nicht nur gezielt mit Ja oder Nein antworten, im Laufe des Trainings konnte er auch komplexe Wünsche kommunizieren.

Gemessen wurden die Fortschritte von Tag 0 an, dem Tag der Implantierung. An Tag 247 sagte der Patient mittels Computerstimme: "Jungs, es funktioniert gerade so mühelos."

Berührende Videos von dem Experiment zeigen einen Computerbildschirm neben dem Bett des Patienten, der über das Gehirnimplantat seine Wünsche kommuniziert. Die Videos zeigen auch, wie mühsam und langwierig diese Kommunikation ist. Trotzdem machen sie Mut und Hoffnung.

Konkrete Wünsche und ganze Sätze

"Leni soll allen Beinlagerung zeigen", "Mama Kopfmassage", "Mixer für Suppe mit Fleisch" sind einige der Wünsche, die der Patient mithilfe des Computers formulierte. Er bat so auch darum, dass man seinen Kopf höher bettet, wenn Besucher im Zimmer sind.

Es dauert seine Zeit, aber immer wieder kann der Patient ganze Sätze bilden: "Erst mal moechte ich mich niels und seine birbaumer bedanke", sagte er an Tag 107 nach der Implantation.  "Ich liebe meinen coolen Sohn", sagte er an Tag 251.

Für den Patienten ist dies eine gewaltige Herausforderung, die er je nach Tagesform mal besser und mal weniger gut meistert. Im Schnitt dauert es ein bis zwei Minuten, bis der Patient auch nur einen Buchstaben gebildet hat und nicht immer ist das Gesagte auch verständlich.

"An manchen Tagen buchstabierte er nur weniger als 100 Zeichen, während er an anderen Tagen mehr als 400 Zeichen produzierte. Trotz der enormen Schwankungen bei der Anzahl der geschriebenen Zeichen lag die Anzahl der pro Minute geschriebenen Zeichen meist bei etwa einem Zeichen pro Minute", heißt es in der Studie.

Durchbruch macht Mut

Für den Patienten, aber auch für die Neurowissenschaften sind dies großartige Neuigkeiten. Natürlich ermöglicht das Gehirnimplantat noch kein direktes Gespräch, die Arbeit mit Brain-Computer-Interfaces steht noch ganz am Anfang.

Aber dass ein Patient allein durch die Vorstellung einer Bewegung bestimmte Hirnströme aktivieren und dadurch kommuniziert, dass er mit seinem klaren Bewusstsein die Eingesperrtheit in seinem eigenen Körper überwinden kann, ist ein sensationeller Durchbruch, der große Hoffnung macht.

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund