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Türkei: Streitpunkt visafreie EU-Reisen

Seda Serdar (wd)22. April 2016

Juni als Zeitziel für die Einführung der Visa-freien EU-Reisen für Türken erscheint unrealistisch. Vor Ort beschäftigt die Eingliederung der Syrer in die türkische Gesellschaft weit mehr. Von Seda Serdar, Gaziantep.

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Türkei Gaziantep Blick auf Stadt. Foto: Imago/Zuma Press/M. Shephard
Bild: Imago/Zuma Press/M. Shephard

Am Samstag wird es soweit sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Präsident des Europarats Donald Tusk und der Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermanns, werden für einen Tag die Stadt Gaziantep besuchen. Dort treffen sie sich mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu. Ziel der gemeinsamen Reise ist, sich anzusehen, wie sich vor Ort entwickelt, was in der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Türkei am 18. März vertraglich festgelegt wurde.

Die Zwickmühle

Hauptsächlich aber dürfte es um den wichtigen Punkt der Visa-Liberalisierung gehen. Nail Alkan, Mitglied der Fakultät für internationale Beziehungen an der Gazi Universität in Ankara ist überzeugt, dass die Türkei den Monat Juni als Zeitrahmen nicht einhalten können wird. Mit anderen Worten: wenn die Türkei nicht in der Lage sein wird, alle 72 Kriterien der EU zu erfüllen - als Bedingung für das visafreie Reisen der Türken innerhalb der Europäischen Union – wird es diese Möglichkeit nicht geben.

Alkan sagt: "Es ist tatsächlich so, dass die Türkei alle Kriterien nicht bis Juni erfüllen kann." Was wird dann passieren ? "Nun, die Türkei sagt: Wir haben 80 Millionen Bürger. Wenn die nicht visafrei durch Europa reisen können, dann platzt der Deal." Europa ist darüber sehr besorgt. "Darum kommt Merkel an diesem Samstag in die Türkei." Die Türkei kann nicht schnell genug Reisepässe mit biometrischen Daten herstellen und Europa wird mit den existierenden Papieren kein visafreies Reisen erlauben.

Das ist nur eines der Probleme, die am Samstag in Angriff genommen werden müssen. Vor Ort in Gaziantep warten noch ganz andere Herausforderungen. Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Künstler sind Zeugen der Schwierigkeiten, die syrische Flüchtlinge erleben.

Kemal Vural Tarlan. Foto: Seda Serdar
Kemal Vural Tarlan erfährt täglich, dass nur wenige syrische Flüchtlinge noch an eine Rückkehr in ihre Heimat glaubenBild: DW/S. Serdar

"Unethisches Vorgehen"

Kemal Vural Tarlan ist Dokumentarfilmer und Fotograf in Gaziantep. Er hat von Anfang an die Flüchtlingskrise verfolgt und sagt klar, dass es ein Fehler gewesen sei, die Flüchtlingsaufnahme zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen. Tarlan erklärt, dass Wichtigste sei jetzt, darüber zu reden, wie man den Krieg in Syrien beenden kann. "Es ist einfach falsch, darüber zu sprechen, wie wir die Leute davon abhalten können, in unser Land zu kommen. Das ist unethisch. Wenn diese Menschen keine Perspektive in der Türkei haben, dann werden sie Mittel und Wege finden, um nach Europa zu kommen."

Tarlan arbeitet auch mit syrischen Künstlern und glaubt, dass die Syrer sich in den vergangenen fünf Jahren verändert haben. "Erst einmal müssen sie damit klarkommen, was sich in ihrem Land ereignet. Zweitens glauben sie nicht mehr an die Freie Syrische Armee und daran, dass man ein neues Syrien aufbauen kann." So gehe der syrische Traum langsam dahin. Auch die Bilder ihrer Heimatstädte verschwinden langsam aus den Köpfen der Syrer. Fünf Jahre sind einfach eine lange Zeit, sagt Tarlan.

Obwohl sie ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickelten, seien sie noch weit entfernt davon, in die Gesellschaft integriert zu sein. Besonders Frauen und Kinder sind benachteiligt. Tugce Atak, Büroleiterin des Verbands für Solidarität mit Asylsuchenden und Migranten (ASAM) in Gaziantep erlebt täglich, wie schwierig sich die Dinge entwickeln. ASAM bietet Bildungsangebote und weitere Unterstützung für Flüchtlinge. Vieles ergibt sich von Fall zu Fall. Im vergangenen Monat ersuchten 10.000 Menschen die Hilfe des ASAM-Teams, das gerade einmal 50 Personen umfasst.

Tugce Atak vom Zentrum für Unterstützung von Flüchtlingen in Gaziantep Türkei. Foto: Seda Serdar
Tugce Atak hofft auf einen guten Ausgang im EU-Türkei-Deal - die Realität vor Ort gibt dazu wenig HoffnungBild: DW/S. Serdar

Ohne Integration platzt der Deal

Atak erzählt, dass viele Menschen überwiegend um finanzielle Hilfe bitten. Dennoch könne man ihnen nur mit kleinen, begrenzten Mitteln helfen. Einige kommen für Sprachunterricht oder Kunstunterricht, andere suchen psychologische Unterstützung. Atak nennt ein Beispiel. "Eine Frau wandte sich an uns wegen Gewalttätigkeiten zuhause. Wir boten ihr Unterstützung durch einen Psychologen, weil sie ihren Ehemann nicht verlassen wollte. Aber die Situation entwickelte sich über Monate immer schlimmer und sie entschloss sich doch, mit ihren Kindern zu gehen. Wir waren in der Lage, ihr Schutz zu bieten. Aber das ist nur eine zeitlich begrenzte Lösung. Nach sechs Monaten sind diese Frauen wieder auf sich gestellt."

Tausende benötigen Unterstützung in irgendeiner Form. Es gibt über drei Millionen registrierte Flüchtlinge in der Türkei und nur 280.000 von ihnen leben in Flüchtlingscamps. Während türkische Bürger sich auf visafreies Reisen in der EU konzentrieren, wächst die Syrien-Krise innerhalb der Türkei. Die Vereinbarung mit der Europäischen Union hat zwar geholfen, die Anzahl illegaler Flüchtlinge zu reduzieren, aber Experten vor Ort sind sich einig, dass sie doch noch ihren Weg nach Europa finden, es sei denn, sie werden in der Türkei integriert.

Wenn jetzt die Europäer nicht glücklich über den Deal seien, sollte das die Türkei nicht kümmern, meint Alkan. "Als die Vereinbarung unterzeichnet wurde, sagten die Europäer, dass Problem der illegalen Einwanderung sei so gelöst". Das wäre eine Win-Win-Situation, ein Gewinn für alle Seiten. "Ich hoffe, dass ist auch so für die Türkei. Bisher haben wir nämlich mehr Rückkehrer akzeptiert, als wir jemals entsendet haben. Es sieht also nicht so aus, als wenn sich die Dinge zu unseren Gunsten entwickeln. Hoffentlich ändert sich das, wenn die Visa-Vereinbarung in Kraft tritt, irgendwann im nächsten Jahr. Die Leute wollen einfach Ferien machen und in Urlaub fahren, doch nur fünf Millionen haben Reisepässe. Es braucht jemanden, der den Europäern sagt, sie sollen sich nicht so aufregen. 70 Millionen Türken werden nicht nach Europa gehen."