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Verlassene Heimat

29. Oktober 2009

Für DW-Mitarbeiterin Erning Zhu war der 4. Juni 1989 die Wende: Nach dem Tiananmen-Massaker war ihr klar, dass sie nicht mehr in ihre Heimat China zurück wollte. Und in der DDR nicht bleiben konnte.

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Zhu Erning, Foto: DW
Erning Zhu fand in Deutschland eine neue Heimat
Erning Zhu im Thüringer Wald, Foto: DW
Am besten waren die Ausflüge: Zhu im Thüringer WaldBild: DW

Vor allem war es furchtbar dunkel: "In Peking oder in Schanghai und selbst bei uns in Nanjing war es schon lange etwas bunter geworden. Aber die DDR, Leipzig war immer noch sehr grau und dunkel." – So erinnert sich Erning Zhu an ihren ersten Eindruck, den sie hatte, als sie zu Beginn des Jahres 1989 in die DDR kam. Ihr Ziel war Leipzig, wo sie ein Jahr Übersetzungswissenschaften studieren und dann ihre Magisterarbeit schreiben wollte. Überhaupt sei das Leben dort härter gewesen als in China, sagt sie: "Die hatten nur wenige Sorten an Gemüse und Obst. Es gab damals nur Äpfel, Zwiebeln und Kartoffeln", erinnert sie sich.

Beeindruckt war sie allerdings von der strammen deutschen Ordnung: Die Infrastruktur war besser als in China, jede Stunde fuhr ein Zug nach Berlin, das fand Zhu toll. Aus den Wasserhähnen kam stets warmes Wasser, und auch der Strom fiel nicht dauernd, wie in ihrer Heimat, aus. Einmal war sie zu Besuch bei einer Kommilitonin im Studentenwohnheim: "Als ich in ihrem Zimmer Kerzen sah, habe ich gesagt: 'Ach so: hier fällt auch Strom aus, nicht wahr?'", erinnert sie sich heute lachend. "Ich habe nicht gewusst, dass die Kerzen auch einen romantischen Glanz erzeugen können!"

Erning Zhu und Komilitonen in der DDR 1989, Foto: DW
"Deutsche Gemütlichkeit"? Erning Zhu mit ihren Komilitonen im Wohnheim in Leipzig, viele von ihnen kamen aus anderen mit der DDR-befreundeten Staaten wie Vietnam oder Russland.Bild: DW

"Die Kugel hätte mich treffen können"

Und während in den Wohnungen Leipzigs die Kerzen brannten, formierte sich auf der Straße der Widerstand, der später mit den Montagsdemonstrationen Schlagzeilen machte und letztlich die Mauer zu Fall brachte. Zhu verfolgte die Aktionen mit großem Interesse.

Das Jahr 1989 veränderte Zhus Leben für immer – aber nicht der 9. November. Es waren vielmehr die Ereignisse am 3. und 4. Juni, als das chinesische Militär auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Peking gewaltsam die studentische Demokratiebewegung niederschlug und bis zu 3000 Menschen getötet wurden. Die Nachricht vom "Tiananmen-Masaker" ging Zhu sehr nah, schließlich hatte es in China schon häufig Demonstrationen gegeben, an denen sie sich auch beteiligt hatte: "Wenn eine Hochschule zu Demonstrationen aufrief, dann machten wir alle mit", erinnert sie sich heute, "ich hätte genauso auf dem Platz gekämpft. Ich kannte viele, alle meine Kommilitonen waren da! Die Kugel hätte mich treffen können!"

Neue sozialistische Brüderschaft

Die DDR war damals einer der wenigen Staaten, die das Vorgehen der chinesischen Regierung uneingeschränkt gut hieß: Bereits wenige Tage nach dem Blutbad bekundete das Politbüro der SED seine Solidarität mit dem "chinesischen Brudervolk" und pries den Militäreinsatz als "Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit".

Dabei war das Verhältnis zwischen der DDR und China nie das engste gewesen: Seit den 1950er Jahren hatte die Volksrepublik begonnen, einen von Moskau unabhängigen Weg beim Aufbau des Sozialismus einzuschlagen, was zu einer zunehmenden Entfremdung führte, auch zwischen der DDR und China. Erst in den 1980er Jahren fand, vor allem auf Betreiben Erich Honeckers, wieder eine deutsch-chinesische Annäherung statt, die vor allem auf der gemeinsamen Ablehnung jeglicher Reformansätze in Moskau basierte. Der Chinabesuch Honeckers 1986 war der Höhepunkt dieser Zusammenarbeit, in deren Rahmen China auch zahlreiche Studenten und Arbeiter zu Ausbildungszwecken in die DDR schickte.

Der Platz des Himmlischen Friedens in peking 1989, Foto: ap
Die Wende für Zhu: Am 3. und 4. Juni schlug die Armee in ihrer Heimat gewaltsam die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking nieder und mit ihnen die Demokratiebewegung.Bild: AP

Vorbild für die Opposition

Ohne das Tiananmen-Massaker wäre womöglich in der DDR alles anders gekommen. Für die DDR-Oppositionellen hatten die Studenten vom Platz des Himmlischen Friedens Vorbildwirkung, als sie gegen ihr kommunistisches Regime aufbegehrten. Bereits wenige Tage später reisten die SED-Politiker Hans Modrow, Günter Schabowski und Egon Krenz sogar nach China, um der Regierung in Peking ihre Unterstützung auszudrücken. Spätestens seit dieser Reise wusste die DDR-Bevölkerung, wie ihre Regierung zu einer "chinesischen Lösung" stand.

Für Zhu war nach diesen Ereignissen klar: Nach China wollte sie jetzt nicht zurück. Da jedoch ihr Visum mit Ende des Austauschprogramms ablief, sah sie nur einen Ausweg: Das Studium abzubrechen und die DDR zu verlassen. Sie konnte sich von niemandem verabschieden und fuhr heimlich, nur mit einem Rucksack ausgerüstet, in den Westen; mit einem Besuchervisum, das gerade noch drei Tage gültig war, sie kannte niemanden und hatte kaum Geld. Nur ein Mann war ihr noch im Gedächtnis: Ein Journalist des Norddeutschen Rundfunks, den sie früher einmal in Peking kennen gelernt hatte. Zhu hatte Glück: Sie fand ihn in Kiel und er half ihr. Später dann begann sie zu studieren und fand sogar eine Stelle als studentische Hilfskraft. Mit dem Studentenvisum durfte sie in Deutschland bleiben, was ihr wichtig war, denn Asyl wollte sie nicht beantragen: "Ich war mit der Politik, den Panzereinsätzen und Kanonen gegen uns Studenten nicht einverstanden, aber ich war politisch nicht verfolgt", sagt sie.

Die DDR wird nicht zusammenbrechen

Darum kann sie auch jetzt frei nach China reisen, um ihre Familie zu besuchen. Heute arbeitet sie in der chinesischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Vielleicht wäre für sie alles ähnlich gekommen, wenn sie damals in der DDR geblieben wäre, denn nur wenige Monate nach ihrer Flucht fiel die Mauer. Doch das war für Zhu zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar. Oft wurde sie damals im Westen auf ihre DDR-Erfahrungen angesprochen. Die Menschen waren neugierig und wollten von ihr wissen, ob sie sich eine Wiedervereinigung vorstellen könne: "Da habe ich immer gesagt: 'Nein, das kann nicht sein, die DDR, die ich kenne, ist dermaßen stark!", erinnert sie sich heute lächelnd. "Und die Polizei ist so mächtig! Dieses Land wird nicht zusammenbrechen!"

Autor: Jan Philipp von Bremen

Redaktion: Ina Rottscheidt