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US-Firmen holen Produktion zurück

Sabrina Kessler New York
8. Dezember 2021

Wegen Lieferengpässen und mangelnden Produktionskapazitäten im Ausland verlagern immer mehr US-Firmen ihre Fertigung zurück in die USA. Dort angekommen, warten neue Probleme.

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USA Wirtschaft Auto Produktion bei Ford in Michigan
Produktionslinie beim Autobauer Ford in MichiganBild: Getty Images

Als Johnson & Johnson ihn fallen ließ, war James Wyner tief getroffen. Viele Millionen Dollar hatte seine Firma, der Textilveredler Shawmut Corporation, zuvor an den Aufträgen des Konsumgütergiganten verdient. Doch dann, Mitte der 1990er Jahre, entschied sich der Konzern, die Produktion seiner medizinischen Schutzausrüstung aus Kostengründen nach Asien zu verlagern. 250 Mitarbeiter musste Wyner daraufhin entlassen, seine Fabrik in Massachusetts war plötzlich menschenleer. "Unser Geschäft hat sich von heute auf morgen in Luft aufgelöst", erzählt er dem Wirtschaftsmagazin Fortune.

Jahrzehntelang haben US-Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagert, da ist Johnson & Johnson kein Einzelfall. Viele suchten dort günstige Materialien, die meisten billigere Arbeitskräfte. Die Globalisierung drückte Kosten, vergrößerte Margen und verhalf unzähligen Firmen zu Milliardengewinnen. Bis zuletzt war es ein knallharter Wettbewerb, Lieferketten auf Effizienz zu trimmen.

Wie verwundbar dieses Konstrukt ist, zeigt sich nun in der Pandemie. Ausgerechnet die rasante Erholung der US-amerikanischen Wirtschaft droht den Aufschwung vieler Unternehmen zu torpedieren. Überall mangelt es an Rohstoffen und Lieferanten, Vorprodukte bleiben aus und an Halbleitern fehlt es gleich ganz. Die Corona-Krise zeigt dem Optimierungsdrang der Chef-Etagen ihre Grenzen auf. 

Es klemmt bei den Lieferketten: Container können nicht in gewohntem Tempo be- und entladen werden - hier im Hafen von Qingdao/China
Es klemmt bei den Lieferketten: Container können nicht in gewohntem Tempo be- und entladen werden - hier im Hafen von Qingdao/ChinaBild: Zhang Jingang/Costfoto/picture alliance

Kleinere Firmen besonders betroffen

Gerade für kleinere und mittlere US-Unternehmen, jene ohne Preissetzungs- und Einkaufsmacht, werden die gesprengten Lieferketten zunehmend zum Geschäftsrisiko. Denn wo Güter knapp sind, steigen die Preise. Um ganze 8,6 Prozent kletterten die Erzeugerpreise im Oktober, es ist der kräftigste Zuwachs seit Beginn der Statistik im Jahr 2010. Selbst Konzerne ächzen mittlerweile unter den massiven Hürden, die laut Analysten weit bis ins Jahr 2024 anhalten könnten.

Sechs Milliarden Dollar weniger Umsatz verzeichnete der Smartphone-Riese Apple deshalb allein im dritten Quartal. Der Sportartikelausrüster Nike wiederum vermeldete Produktionsausfälle in Vietnam, weshalb bis Jahresende 160 Millionen Schuhe weniger produziert werden. Der Spielwarenkonzern Hasbro leidet unter massiv gestiegenen Frachtkosten, was die Gewinne belastet. Ähnliches auch beim Fleischersatzhersteller Beyond Meat, dessen Aktien auch deshalb immer weiter fallen.

Immer mehr Firmen ziehen deshalb die Reißleine und holen ihre Produktion zurück in die USA. Reshoring nennen Experten diesen Trend, der sich schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie abgezeichnet hatte. Bereits im Jahr 2019, als der Handelsstreit mit China seine volle Kraft entfaltete, planten US-Unternehmen ihre Abhängigkeit vom asiatischen Markt zu verringern, mehr oder weniger freiwillig. Heute werden sie durch den Nachfrageüberhang dazu gezwungen.

Der Chip-Konzern Intel plant Milliarden-Investitionen in den USA
Der Chip-Konzern Intel plant Milliarden-Investitionen in den USABild: Imago/Xinhua

Große Konzerne mit Milliarden-Investitionen

Schon im März verkündete Intel deshalb, rund 20 Milliarden Dollar in zwei neue Halbleiter-Fabriken in Arizona zu investieren. General Motors verlagert derweil seine Batterie-Produktion zurück nach Michigan, wo ein neuer Innovationsstandort für Lithium-Produkte entstehen soll. Weil die Preise für Stahl durch die Decke schießen, hat sich der amerikanischen Stahlproduzent U.S. Steel unterdessen dazu durchgerungen, seine neue, drei Milliarden Dollar teure Fabrik nicht im Ausland, sondern in einem der US-Bundesstaaten Alabama oder Arkansas zu bauen. Auch Firmen wie der Rüstungskonzern Lockheed, der Mischkonzern General Electric oder der Laborausrüster Thermo Fisher lockt es aktuell zurück in die Heimat.

Mehr als 1800 US-Unternehmen wollen ihre Fertigung nach Angaben der Reshoring Initiative, einer Organisation zur Stärkung der US-Wirtschaft, in diesem Jahr ganz oder teilweise ins eigene Land zurückholen. Bis Jahresende sollen so 220.000 neue Arbeitsplätze in den USA entstehen, so viele wie noch nie. Noch vor elf Jahren lag die Zahl der durch die Inlandsverlagerung geschaffenen Stellen bei gerade mal 6000. Vor allem in den Bereichen Chips, Batterien für Elektrofahrzeuge, persönliche Schutzausrüstung, Arzneimittel und seltene Erden - Branchen, in denen die globalen Lieferketten in den letzten zwei Jahren besonders stark unterbrochen wurden - kommen Jobs zurück.  

Dass die Zeit drängt, weiß auch US-Präsident Joe Biden. Im Weißen Haus wertet man die Engpässe längst als nationales Sicherheitsrisiko. Schon im Februar, kurz nach seinem Amtsantritt, ordnete er an, Lieferketten in zentralen Branchen auf ihre Standfestigkeit zu überprüfen. Auch sein Infrastrukturpaket, das amerikanischen Firmen unter die Arme greifen soll, hat es vor wenigen Tagen endlich durch den US-Kongress geschafft.

General Motors mit US Flagge
Der Autobauer GM verlagert seine Batterieproduktion nach MichiganBild: picture-alliance/dpa

Rekrutierung von Arbeitskräften als Problem

Die Bemühungen der US-Regierung gehen Harry Moser allerdings nicht weit genug. Dass Biden notwendige Maßnahmen ergreife - etwa Investitionen in die Halbleiter- und Batterieproduktion - sei zwar lobenswert, sagt der Reshoring-Experte. Insgesamt aber seien die Hilfen zu oberflächlich, um die heimische Produktion zu stärken.

"Unsere Produktionskosten sind 15 Prozent höher als die in Deutschland und 40 Prozent höher als die in China", sagt Moser, der selbst 22 Jahre lang Chef eines mittelständischen Werkzeugmaschinenherstellers war. Für einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil drängt der 53-Jährige deshalb darauf, die Kostenlast zu reduzieren, etwa durch Steuersenkungen und längerfristige Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften. "Wenn wir die zugrundeliegenden Probleme nicht angehen, werden wir nicht genügend elektronische Produkte und Fahrzeuge produzieren, in die wir unsere subventionierten Chips und Batterien später einbauen."

Der Branchen-Veteran glaubt dennoch, dass der Trend zum Reshoring anhalten dürfte. Vor allem dem US-Arbeitsmarkt dürfte das einen enormen Boost geben. Glaubt man den Berechnungen des Economic Policy Institutes, einer Denkfabrik aus Washington, schafft jeder Job, der im verarbeitenden Gewerbe entsteht, fünf weitere. Bei der Herstellung von Gebrauchsgütern, etwa Autos und Waschmaschinen, liegt der Multiplikator sogar bei mehr als sieben.

Viele Unternehmen dürften sich allerdings schwertun, willige Mitarbeiter zu finden. Denn seit dem Frühjahr läuft den amerikanischen Firmen die Belegschaft davon. Im Rekordtempo verlassen Amerikaner ihre Jobs, weil sie ihr Arbeitsleben überdenken. Viele von ihnen nehmen deshalb längst nicht mehr jede Stelle an, schon gar nicht am Fließband. 4,4 Millionen Amerikaner kündigten allein im September, so viele wie noch nie zuvor. The great resignation heißt dieser Trend, der die ganze USA umspannt.

Dass dieses Phänomen nicht zutreffen muss, sieht man bei James Wyner. Dank millionenschwerer Hilfsgelder, die die Produktion von Atemschutzmasken in den USA ankurbeln sollten, ist es dem Chef von Shawmut Corporation gelungen, die ins Ausland abgewanderte Fertigung zurückzuholen. Bis zu 300 Menschen werden bald bei ihm arbeiten, 50 mehr als in den 1990er Jahren. Die für die Fertigung benötigten Materialien stammen derweil nur noch von lokalen Zulieferern. "Unsere Lieferketten überschreiten keine Grenzen mehr", verspricht Wyner.