Unterwegs mit dem Kältebus
Bei Minusgraden in den Winternächten sind sie in verschiedenen deutschen Städten unterwegs: Helferinnen und Helfer, die Obdachlose vor dem Erfrieren retten wollen. In eine Notunterkunft wollen die wenigsten.
In sehr vielen deutschen Städten sind sie ein normaler Anblick: wohnungslose Menschen, die auf der Straße leben. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, ein Zusammenschluss von Organisationen, die obdachlose Menschen unterstützt, haben mehr als eine Million Menschen kein Dach über dem Kopf. Besonders schlimm ist die Situation für diejenigen, die auf der Suche nach Arbeit aus osteuropäischen Staaten nach Deutschland kommen und auf der Straße landen auf der Straße landen hier umgangssprachlich für: obdachlos werden . Sie haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe Sozialhilfe (f., nur Singular) das Geld, das arme Menschen vom Staat bekommen leistungen und eine Sozialwohnung Sozialwohnung, -en (f.) eine Wohnung für Menschen, die wenig Geld haben und nur eine geringe Miete zahlen müssen . Auch um sie kümmern sich haupt- und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die in Winternächten, wenn die Temperatur unter null Grad sinkt, in vielen deutschen Städten mit einem sogenannten „Kältebus“ oder „Mitternachtsbus“ unterwegs sind. Ihr Ziel: den einen oder die andere dazu zu bewegen, die Nacht in einer Notunterkunft zu verbringen. Wer das nicht will, erhält eine warme Mahlzeit, Heißgetränke, manchmal auch warme Kleidung und einen Schlafsack. Das Angebot gilt in den Monaten zwischen November und März – unter anderem auch in der Hauptstadt Berlin.
Hier sind in dieser Nacht Artur und Rudolf, die für die „Berliner Stadtmission“, einen selbstständigen Verein unter dem Dach unter dem Dach hier: so, dass es eine übergeordnete Organisation für eine andere Organisation gibt der evangelischen Kirche, arbeiten, mit ihrem Bus unterwegs. Laut Artur, der selbst aus Polen stammt, sind die meisten Wohnungslosen Deutsche. Es gebe aber inzwischen auch eine steigende Zahl aus osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien, nicht ohne Grund:
„In den Ländern wird es immer schwieriger, in ganz Europa geht die Schere immer weiter auseinander zwischen Armut und Reichtum. Natürlich, wenn die Leute in anderen Ländern hungrig sind und keine Arbeit haben, dann reisen die und suchen [einen] speziellen Ort in Europa, wo können die irgendwie zu Geld kommen. Und ja, natürlich Deutschland hat [einen] guten Ruf in Europa, [und daher] kommen viele Leute nach Deutschland.“
In Europa, so Artur, werden die sozialen und finanziellen Unterschiede in der Bevölkerung größer, geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Daher versuchen viele ihr Glück in Deutschland, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. In der Regel ist das ein Trugschluss Trugschluss, -schlüsse (m.) eine falsche Annahme/Folgerung . Artur und Rudolf halten an. Auf der Straße liegt ein Mann, eingerollt in einen grünen Schlafsack – sein einziger Schutz gegen die Kälte. Um ihn herum verteilt liegen leere Bierflaschen und Plastikeinkaufstüten. Die beiden bieten ihm an, ihn für die eine Nacht zu einer Schlafunterkunft zu bringen:
„We are from the church called ‚Stadtmission‘. We have tea …“
Aber der Mann aus England zeigt kein Interesse. Darauf wenden die beiden sich einem anderen Mann zu, der in der Nähe liegt. Sein Name ist Thelios. Wegen der Wirtschaftskrise in seinem Land kam der Grieche auf der Suche nach einem besseren Leben vor zweieinhalb Jahren zurück nach Deutschland:
„Ich hatte einen Unfall in Griechenland und danach Stroke [einen Schlaganfall]. Ich war ohne Geld, und ich hatte keine Arbeit, ich bin hier[her] gekommen – und ich lebe. Dort könnte ich nicht leben, ich habe niemanden auf der Welt. Ich habe früher hier gearbeitet, danach war ich in Griechenland, aber mit der Krise hatte ich Probleme.“
Auch Thelios möchte seinen Platz in der Nähe einer öffentlichen Toilette nicht verlassen und in den Bus steigen, um zu einer Obdachlosenunterkunft gefahren zu werden. Er hat die Erfahrung gemacht, dass es dort zu viele Alkoholiker gibt, die nur Probleme bereiten. Sein Leben bestreitet er mit dem Geld, das er durch das Sammeln von herumliegendem Leergut Leergut (n., nur Singular) Bezeichnung für Flaschen oder andere Behälter, die mehrmals befüllt werden können bekommt. Denn für Mehrwegflaschen wie Bier, Saft, Softdrinks erhält man im Supermarkt 15 Eurocent, für Einwegflaschen Einwegflasche, -n (f.) eine Flasche (Glas, Kunststoff), die nicht wieder befüllt wird und -dosen 25 Eurocent. Thelios hatte großes Glück, dass er nach seinem Schlaganfall kostenlos an der Berliner Universitätsklinik medizinisch behandelt worden war. Ein Schlaganfall ist eine plötzlich, schlagartig, auftretende Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Je länger dieser Zustand andauert, umso schwerer sind die körperlichen Schäden bis hin zum Tod. Während Artur noch mit Thelios spricht, klingelt sein Mobiltelefon:
„Kältebus der Stadtmission Berlin. Herr Ali. Guten Abend. … Und zwar muss er da die Frankfurter Allee stadtauswärts unter der S-Bahn durch, ja …“
Eine Kollegin des Teams hat eine obdachlose Frau gefunden und möchte wissen, wo die nächstliegende Schutzeinrichtung ist, um sie dort hinzubringen. Artur erzählt, warum auch viele seiner obdachlosen Landsleute zu Alkoholikern werden:
„Wenn sie kommen nach Deutschland, dann kommen sie nach Deutschland mit [der] Hoffnung, um Arbeit zu bekommen, Geld zu verdienen und nicht nur selber besser leben [zu können], sondern auch die Familie in Polen zu unterstützen. Natürlich, das klappt sehr selten – und dann landen diese Menschen auf der Straße und verfallen in Alkoholismus, weil sie sonst ohne Alkohol auf der Straße kann man [es] nicht aushalten.“
Deutschland ist ein Sozialstaat. Allerdings kommen nur diejenigen in den Genuss von Sozialleistungen, die auch einen Anspruch darauf haben. Menschen aus anderen EU-Ländern, die noch nicht in Deutschland gearbeitet haben oder arbeiten und kein Aufenthaltsrecht haben, stehen zum Beispiel in den ersten fünf Jahren keine Leistungen zu. Trotzdem hält diese Tatsache viele nicht davon ab, ihr Glück doch zu versuchen. Zelte oder selbstkonstruierte Notschlafplätze in öffentlichen Parks und unter Eisenbahnbrücken gehören inzwischen zum gewohnten Straßenbild vor allem in größeren Städten – mit den entsprechenden Auswirkungen, sagt die langjährige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey, die 2018 zur Bundesfamilienministerin ernannt wurde:
„Wir haben ja eine Situation, dass wir teilweise 10, 20, 30 Leute haben, die eine Art Zeltlager aufbauen in Parks und Grünanlagen, dort dann übernachten, und das führt zu allen Begleiterscheinungen: natürlich ein ganz hohes Müllaufkommen. Die Menschen verrichten ihre Notdurft in den Grünanlagen, in den Sandkästen der Spielplätze. Und das führt natürlich auch zu einem Unfrieden in der Bevölkerung, die sagt, das geht nicht, dass unsere Parks so verwahrlosen.“
Die wilden wild hier: nicht von einer offiziellen Stelle genehmigt Zeltlager sorgen für Unfrieden, führen zu Streitigkeiten. Ein Grund ist, dass wegen fehlender sanitärer Einrichtungen die Wildcamper in den Parks und Grünanlagen ihre Blase und ihren Darm entleeren, ihre Notdurft verrichten. Daher gehen die Behörden konsequent gegen diese Wildcamps vor.
Artur und Rudolf haben inzwischen einen Obdachlosen aus Polen gefunden, der bereit ist, von ihnen zu einer Notunterkunft gebracht zu werden. Zumindest für eine Nacht hat er dann eine Bleibe, ein Dach über dem Kopf. Ein großes Problem ist, dass viele dieser Unterkünfte in Berlin nur von November bis März geöffnet sind. Außerhalb dieses Zeitraums sind die Obdachlosen gezwungen, im Freien zu übernachten. Artur wünscht sich, dass Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union bei der Rückführung osteuropäischer Obdachloser in ihre Heimat mit ihren osteuropäischen Partnern zusammenarbeiten. Denn, so Artur:
„Viele sind so krank geworden, dass sie nirgendwo Arbeit bekommen können. Und wenn sie zum Beispiel zurück nach Polen zurückfahren sollen, dann brauchen sie [dort] auch ein Dach über dem Kopf. Und wenn wir sind in der EU, da kann man das auch irgendwie organisieren, dass sie nach Polen zurückfahren können, sag ich jetzt beispielsweise, und eine Wohnung bekommen oder so, oder irgendwelche Einrichtungen, wo können die da ihre letzten Jahre verbringen.“
Bis das aber geschieht, werden Artur und seine Kolleginnen und Kollegen bei eisigen Temperaturen mit ihrem „Kältebus“ weiter durch die nächtlichen Straßen Berlins fahren, um das Leben von Obdachlosen ein bisschen besser zu machen – zumindest für eine Nacht.
Unterwegs mit dem Kältebus
auf der Straße landen — hier umgangssprachlich für: obdachlos werden
Sozialhilfe (f., nur Singular) — das Geld, das arme Menschen vom Staat bekommen
Sozialwohnung, -en (f.) — eine Wohnung für Menschen, die wenig Geld haben und nur eine geringe Miete zahlen müssen
unter dem Dach — hier: so, dass es eine übergeordnete Organisation für eine andere Organisation gibt
Trugschluss, -schlüsse (m.) — eine falsche Annahme/Folgerung
Leergut (n., nur Singular) — Bezeichnung für Flaschen oder andere Behälter, die mehrmals befüllt werden können
Einwegflasche, -n (f.) — eine Flasche (Glas, Kunststoff), die nicht wieder befüllt wird
wild — hier: nicht von einer offiziellen Stelle genehmigt