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Politik

"Der Schuh drückt beim Geld"

13. April 2019

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat Eduardo Stein zum Sonderbeauftragten für die venezolanischen Flüchtlinge in Lateinamerika ernannt. Im DW-Interview nimmt er Stellung zur aktuellen Situation.

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Venezuela San Antonio Flüchtlinge an der Grenze zu Kolumbien
Bild: Reuters/Stringer

Deutsche Welle:  Herr Stein, Sie gehörten zu den 200 Teilnehmern aus 14 Ländern, die diese Woche in Quito über das weitere Vorgehen in der venezolanischen Flüchtlingskrise gesprochen haben. Sind Sie mit den Ergebnissen des sogenannten Quito-Prozesses zufrieden?

Eduardo Stein: Ja, dieses dritte Treffen war sehr produktiv und erfolgreich. Die Regierungen konnten sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wie sie die Immigration der vielen Flüchtlinge aus Venezuela dokumentieren, sobald diese ihr Land betreten. Alle Länder wollen außerdem den Schutz und den Zugang zu Menschenrechten für die Flüchtlinge garantieren.

Wie sehen Sie den Status Quo der venezolanischen Krise?

Täglich verlassen immer noch etwa 5000 Venezolaner ihr Land, das heißt: Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Und die Situation wird immer prekärer: durch die Unterbrechung der Stromversorgung in Venezuela, durch den Mangel an Medikamenten und an Lebensmitteln. Die venezolanische Krise spitzt sich also jeden Tag weiter zu.

Schätzungen zufolge wird es bis zum Ende des Jahres fünf Millionen venezolanische Flüchtlinge geben. Ist Lateinamerika darauf vorbereitet?

Dies ist die schwerste Migrationskrise, die wir je in der Geschichte Lateinamerikas erlebt haben. Und wir waren als Region zu keinem Zeitpunkt auf eine Flucht dieses Ausmaßes vorbereitet. Dazu kommen noch die Risiken, die sich die venezolanische Bevölkerung dabei aussetzt. Vor allem an den Grenzübergängen haben wir eine enorme Zahl von Misshandlungen festgestellt. Die Regierungen der Region haben bisher versucht, diese Krise mit ihren internen Budgets zu bewältigen, diese sind aber jetzt erschöpft. Die Aufnahmeländer sind überfordert, was die Kapazitäten für die Einwanderung angeht, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Wenn der Flüchtlingsstrom anhält, und es tatsächlich fünf Millionen Flüchtlinge bis zum Jahresende sind, werden wir den Menschen ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft nicht adäquat helfen können.

Sie fordern also eine höhere finanzielle Unterstützung für die Aufnahmeländer der Region. Wie viel Geld wird genau benötigt?

Wir haben Ende letzten Jahres zusammen mit den Regierungen, mit Kirchen, mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und weiteren UN-Organisationen kalkuliert, dass wir 738 Millionen US-Dollar benötigen, um die venezolanische Flüchtlingskrise in den Jahren 2019 und 2020 zu meistern. Und selbst wenn es morgen eine politische Lösung für die Krise in Venezuela geben würde, würde es zwei Jahre dauern, bis alle venezolanischen Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückgekehrt wären.

Eduardo Stein | eheamliger Vizepräsident Guatemalas
"Lateinamerika wird nach der Venezuela-Krise nicht mehr so sein wie früher" - Eduardo Stein vom UNHCRBild: Getty Images/AFP/O. Sierra

Abgesehen vom Geld: Gibt es einen Bedarf an Entwicklungshelfern, Freiwilligen, also Personal, um mit dieser Ausnahmesituation umzugehen?

In allen Aufnahme- als auch Transitländern ist die Antwort auf die venezolanische Flüchtlingskrise von einer beispiellosen Großzügigkeit geprägt. In Kolumbien, Ecuador, Peru, Argentinien, Chile und Brasilien hat sich die lokale Bevölkerung organisiert, um Soforthilfe leisten zu können. Internationale Organisationen haben außerdem Spezialisten geschickt, insbesondere im Gesundheitsbereich, also Ärzte. Das war auch notwendig, weil die lokalen Krankenhäuser mit der Situation überfordert waren.

Würden Sie sagen, dass zum Beispiel für ein Land wie Kolumbien, wo es zusätzlich noch Hunderttausende von Binnenflüchtlingen gibt, irgendwann die Aufnahmekapazität erschöpft ist?

Das ist natürlich schwierig zu sagen, weil für jedes Land in der Region die Herausforderung der venezolanischen Flüchtlingskrise unterschiedlich groß ist. Was wir aber bei unserem Treffen in Quito feststellen konnten, ist, dass die Länder wirklich an die Grenze ihrer Kapazitäten stoßen. Wenn sich diese Krise aus irgendeinem aktuellen Grund verschlimmert und wir plötzlich zu den Augustzahlen zurückkehren müssten, wo wir täglich 19.000 oder 20.000 Flüchtlinge hatten, wäre dies für die Aufnahmeländer ohne externe Hilfe nicht zu schaffen.

Welche Probleme stellen Sie bei der Integration venezolanischer Flüchtlinge fest? Wächst der Rassismus gegen sie?

Es ist wichtig, zu erwähnen, dass es in einigen Gemeinden bereits fremdenfeindliche Ausbrüche gab. Wir beobachten teilweise eine  Verärgerung darüber, dass so viele Menschen kommen. Die lokale Bevölkerung hat das Gefühl, dass sie mit den Ankömmlingen um lokale Dienstleistungen und Arbeitsplätze konkurrieren muss. Aus diesem Grund haben die Regierungen der Aufnahmeländer  immer wieder betont, wie wichtig es ist, Gelder gleichmäßig zu verteilen, also für die lokale Bevölkerung und die Flüchtlinge.

Der Quito-Prozess wird im Juli in Buenos Aires fortgesetzt. Was muss die internationale Gemeinschaft in diesen drei Monaten tun?

Die Regierungen der Länder, die von der venezolanischen Flüchtlingskrise betroffen sind, haben darauf beharrt, dass sie außer den versprochenen Geldern noch eine weitere große finanzielle Unterstützung erhalten müssen. Zur Einordnung: Von den Dezember 2018 vereinbarten und notwendigen 738 Millionen US-Dollar sind gerade einmal elf Prozent eingegangen. In den nächsten drei Monaten wollen wir auch ein Dokument für die venezolanischen Flüchtlinge erarbeiten, dass es ihnen ermöglicht, sich in allen Ländern der Region frei bewegen zu können.

890.000 Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte damals den berühmten Satz: "Wir schaffen das!" Ist das auch ihr Motto im Hinblick auf die Flüchtlingskrise in Venezuela?

Alle Aufnahmeländer haben äußerst großzügig, offen und solidarisch auf die venezolanische Flüchtlingskrise reagiert. Wo jetzt der Schuh drückt, ist beim Geld. Aber wir sind davon überzeugt, dass wir es mit den finanziellen Mitteln schaffen können, den Menschen, die ihr Land verlassen mussten, die adäquate Unterstützung geben zu können.

Eduardo Stein, früherer Vizepräsident von Guatemala, wurde im September 2018 vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, zum Sonderbeauftragten für die venezolanischen Flüchtlinge in der Region ernannt.

Das Gespräch führte Oliver Pieper.