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Ungeliebte Handschellen

Gerda Meuer, Brüssel4. September 2002

Was taugt der Stabilitätspakt? Vor dieser Frage stehen dieser Tage Europas Finanzpolitiker. Brüssel hat sie zum halbjährlichen Kassensturz gebeten, und dabei kommt bei einigen Kassenwarten wohl Unangenehmes zu Tage.

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Einige haben ihn, andere brauchen mehr davon: der EuroBild: AP

Zwei Mal im Jahr wird bei EU-Währungskommissar Pedro Solbes Bilanz gezogen. Zum 1. März und zum 1. September eines jeden Jahre müssen die EU-Staaten ihre Defizitschätzungen nach Brüssel melden. Keine Probleme hatten damit wieder einmal die Musterschüler des europäischen Stabiltätspaktes. Finnland, Dänemark, Luxemburg und auch Schweden können in diesem Jahr ihre Zahlen stolz präsentieren, stehen sie doch dank Haushaltsüberschüssen im deutlichen Plus.

Kein blauer Brief
Im Januar hatte Finanzminister Hans Eichel noch Grund zum Strahlen: der "Blaue Brief" der Europaeischen Union an Deutschland wegen des hohen Haushaltsdefizits war endgueltig vom TischBild: AP

Anders sieht es bei den Schlusslichtern aus: Italien, Frankreich, Portugal und dem Tabellenletzten Deutschland. Vor allem in Berlin zögert man noch, die neuen Haushaltsdefizite vorzulegen. Bundesfinanzminister Hans Eichel ließ bereits erklären, das sei nicht unüblich, sein Ministerium werde die Zahlen später melden. Denn noch sei nicht absehbar, wie sehr die Flutschäden Einfluss nähmen.

Halbe Wahrheit

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn in Deutschland ist Wahlkampf. Und nachdem Berlin im Frühjahr knapp an einem Blauen Brief vorbeigeschrammt war, kann es nicht im Interesse der rot-grünen Koalition liegen, den Gerüchten über einen neuen deutschen Defizitrekord vor dem 22. September noch mehr Stoff zu geben.

Die EU-Kommission macht bei dieser Spielverzögerung mit. Die Brüsseler Beamten wollen zum einen nicht in einen Wahlkampf gezogen werden. Zum anderen vertreten sie auch handfeste eigene Interessen, so zum Beispiel die deutsche Haushaltskommissarin Michaele Schreyer, auf dem Ticket der Grünen in Brüssel, die in einem Interview erklärte, ein Blauer Brief stehe jetzt nicht auf der Tagesordnung.

EU-Kommissar Pedro Solbes für Wirtschaft und Finanzbeziehungen
Noch ist der EU-Währungskommissar Pedro Solbes bereit auf die deutsche Defizitschätzung zu wartenBild: AP

Vermutlich wird dies nach den Bundestagswahlen anders aussehen. Konjunkturexperten gehen bereits davon aus, dass Deutschland diesmal nicht mit einem blauen Auge davonkommt und die in Maastricht gesetzte Grenze von drei Prozent des Bruttoinlansproduktes sprengt. Um unter dieser Grenze zu bleiben, müsste das Defizit des ersten Halbjahres von 36 Milliarden Euro drastisch sinken, und zwar um elf Milliarden Euro. Daran glaubt im Moment bei anhaltend schlechter Konjunktur, dramatischer Arbeitslosigkeit und täglich neuen Defizitmeldungen öffentlicher Kassen kaum noch jemand.

Angeschlagene Schwergewichte

Doch ist der Blaue Brief ersteinmal geschrieben, wird die Europäische Union vermutlich noch eine ganz neue Diskussion führen müssen. Denn auch anderen Schwergewichten des Clubs der 15 drohen Mahnschreiben aus Brüssel. Frankreich und Italien etwa hängen ebenfalls in den roten Zahlen. Dabei hat vor allem Paris vor Wochen schon die Fortsetzung der bisherigen Stabilitätspolitik in Frage gestellt. Staatspräsident Chirac will seine Wahlversprechen einlösen, will Steuern senken und braucht mehr Geld für Rüstung und innere Sicherheit. Und auch Rom hält sich nicht an die Mahnungen Brüssels zu mehr Ausgabendisziplin. Sowohl Italien als auch Frankreich wollen mehr Spielraum, mehr Flexibilität in der Haushaltspolitik, das heißt Schulden machen.

Deutschland hingegen, auf dessen Drängen der Stabilitätspakt 1997 geschaffen wurde, steht vorerst weiter fest zu dessen Kriterien. Bundesfinanzminister Eichel hat sich strikt gegen jede Aufweichung gewandt. Doch vielleicht ändert sich diese Einstellung ja - je höher der Schuldenstand in Deutschland am Ende tatsächlich sein wird.