1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Mit welchen Gefühlen Russen in den Krieg ziehen

Irina Chevtayeva
19. November 2022

Hunderttausende Russen kamen der Vorladung zum Einberufungsamt nach. Zehntausende stehen bereits an der Front. Doch die meisten wollen offenbar nicht kämpfen - sondern einfach zurück nach Hause.

https://p.dw.com/p/4JbqW
Eingezogene Reservisten Mitte Oktober in Serpuchow
Eingezogene Reservisten Mitte Oktober in SerpuchowBild: Alexander Shcherbak/TASS/dpa/picture alliance

"Wie soll ich einem verwundeten Kameraden helfen?", fragt Pawel (Name geändert), der noch bis vor Kurzem als Fahrer in der Stadt Raduschny in Westsibirien gearbeitet hat. Ende Oktober wurde ihm ein Einberufungsbescheid zugestellt. Zuletzt war der heute 41-Jährige vor 20 Jahren als Unteroffizier in der russischen Armee. "Damals ging es mir gut", erinnert er sich und fügt hinzu, heute leide er unter anderem an Problemen mit der Wirbelsäule und könne "nichts heben, das schwerer als ein Wasserkocher ist".

Über seine Gesundheitsprobleme informierte er das Einberufungsamt, das ihn zu einem Arzt überwies. Doch dieser konnte die CD mit den Diagnoseberichten nicht öffnen. So wurde Pawel einfach als tauglich eingestuft. Daraufhin machte er sich angesichts von Berichten, dass einberufene Männer schlecht ausgestattet würden, mit seiner Frau auf, um Pullover, Mützen, Handschuhe, Medikamente, Mullbinden und Unterwäsche zu besorgen. Eine kugelsichere Weste hat er aber nicht. "Es heißt, der Gouverneur könnte welche bringen, aber die schützen angeblich nicht einmal vor einem einfachen Maschinengewehr", so Pawel.

Ein russisch-orthodoxer Priester steht vor einberufenen Reservisten in der Stadt Batajsk Ende September 2022
Ein russisch-orthodoxer Priester vor einberufenen Reservisten in der Stadt Batajsk, Ende September 2022Bild: Sergey Pivovarov/REUTERS

Derzeit wird Pawel auf einem Trainingsgelände nahe Tschebarkul in der Region Tscheljabinsk auf den Einsatz vorbereitet. "Man hat uns versprochen, Schießen zu üben. Aber wir sind nur mit alltäglichen Dingen beschäftigt. Wir sind in Zelten untergebracht, es gibt nur Etagenbetten und Matratzen. Es gibt zwar Strom, aber keine Steckdosen. Die Toilette ist draußen, kalt und ohne Licht. In den Duschen fließt nur kaltes Wasser oder gar keins. Freiwillige kochen das Essen, aber ich denke, dass sie es nicht einmal selbst kosten", beschwert sich Pawel. Bald sollen er und seine Kameraden zunächst nach Rostow am Don und dann in die Ukraine an die Front geschickt werden.

"Eigentlich will ich keine Menschen töten", sagt Pawel. Er gibt zu, Angst vor dem Sterben zu haben: "Alle haben Angst, aber es ist unerwünscht, hier darüber zu sprechen. Wenn ich selbst mit der Mama spreche, kommen mir die Tränen. Ich will das alles nicht, aber ich kann nichts dafür." Pawel hat eine Frau und drei Kinder. Politik habe sie wenig interessiert. "Ich verstehe nicht, wogegen ich kämpfen soll. Okay, wenn das in meiner Stadt oder meinem Landkreis wäre. Aber Krieg wird heute mit Robotern und nicht mit Menschen geführt. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Dort werden solche Waffen eingesetzt, dass wir keine fünf Meter übers Feld laufen können, ohne auf einen Schlag getötet zu werden", so Pawel.

"Männer laufen vor der Mobilmachung davon"

Auch Anton Truschin meint, dass die russische Armee schlecht ausgerüstet sei. Vor seiner Einberufung arbeitete der 38-Jährige als Dozent an der Plechanow-Wirtschaftsuniversität in Moskau. Er hat eine Frau und einen vierjährigen Sohn. Jetzt ist Anton in einer Panzerdivision bei Naro-Fominsk im Großraum Moskau und soll in wenigen Wochen an die Front. "Es gibt organisatorische Mängel. Ich fühle mich unwohl, ich bin es nicht gewohnt, dass mir unqualifizierte 23-Jährige Befehle erteilen", sagt er. Anton hält seine Einberufung für einen Fehler und will zurück nach Hause.

Anton Truschin, in Militärkleidung gekleidet und mit einem Maschinengewehr in der Hand, steht und liest von einem Schriftstück. Er will nicht als Verräter gelten.
Anton Truschin will nicht als Verräter geltenBild: privat

Als Anton den Einberufungsbescheid erhielt, ging er zur Rekrutierungsstelle. "Ich war nicht beim Militär, ich habe einen Hochschulabschluss und dazu Probleme mit einem Bein", sagt er. Nach einer ärztlichen Untersuchung wurde ihm gesagt, er müsse eine Entscheidung abwarten. Unterdessen schrieb Anton an die Staatsanwaltschaft, die Staatsduma, den Föderationsrat mit der Bitte, seinen Fall zu prüfen. "Das Verfahren läuft, dennoch ich bin schon in der Ausbildung", sagt Anton. Er hofft, dass er nur vorübergehend in der Armee ist.

Trotzdem ist Anton seinem Land dankbar: "Es hat mir ermöglicht, eine Ausbildung zu bekommen und gutes Geld zu verdienen. Wenn der Staat mich hier braucht, dann versuche ich - obwohl ich unfreiwillig hier bin und auf Gerechtigkeit warte - so nützlich wie möglich zu sein." Seine Groß- und Urgroßväter seien Militärs gewesen, und wenn er jetzt nicht zur Armee gegangen wäre, hätte ihn seine Familie als Verräter betrachtet. Schrecklich findet er, dass "erwachsene Männer vor der Mobilmachung davonlaufen". Sie hätten bei Wahlen die Möglichkeit gehabt, ihre Position zu äußern. Anton glaubt, dass Russland eine Demokratie sei, die nur einige "Verzerrungen" habe. Was die Ukraine angehe, so habe er sie nie als eigenständiges Land betrachtet. "Russlands Aufgabe ist es jetzt nicht, dem Westen oder der NATO etwas zu beweisen, sondern die Ukraine zu entmilitarisieren", meint Anton.

"Blut wird an meinen Händen kleben"

Alexej (Name geändert), der ebenfalls in den Krieg muss, findet, all das sei nicht in seinem Interesse und nur schmutzige Politik. "Aber ich weiß, was Ehre ist, ich habe Wehrdienst geleistet und eine Militärschule absolviert, deshalb muss ich zur Armee", sagt er. Der 25-jährige Leutnant ist Berufssoldat. Wo genau er sich jetzt aufhält, verrät er nicht.

"Niemand hat sichere Informationen über diesen Krieg. Man fragt sich, wofür man kämpft und wofür man sterben könnte. Verbittert bin ich deswegen nicht, ich bin doch ein Mann, ein Bürger meines Landes, ich habe einen Eid geleistet. Aber ich weiß nicht, was ich persönlich mit diesem Krieg zu tun habe", sagt Alexej und fügt hinzu: "Aber wenn ich an der Front auf einen Ukrainer treffe und entweder er mich oder ich ihn töten muss, dann ist die Sache für mich klar. Ich weiß, dass Blut an meinen Händen kleben wird. Aber Befehl ist Befehl."

"Ich habe wie durch ein Wunder überlebt"

Michail (Name geändert) ist freiwillig zur Armee gegangen und hat sich bis Januar verpflichtet. Der 54-Jährige sagt, er sei Jurist und Blogger aus der Teilrepublik Tschuwaschien. Dort würden seine Frau und vier Kinder auf ihn warten. Zurzeit ist er an der Front in der Region Cherson. "Ich bin Panzerschütze und bringe noch Erfahrungen aus der Sowjetzeit mit, das kann nützlich sein", meint er.

Auf die Frage, ob er schon jemanden getötet habe, sagt Michail: "Ich bin in einer Einheit, die Panzer repariert. Geschossen habe ich nicht. Aber sollte unsere Einheit angegriffen werden, werde ich mich dem stellen. Ich habe einen Helm, eine Schutzweste und ein Maschinengewehr." An vorderster Front sei er allerdings schon gewesen: "Ich war in einem Gebäude, in das eine Granate einschlug. Ich habe wie durch ein Wunder überlebt." Michail hat von Toten und Verletzten in der russischen Armee gehört, will aber nicht darüber sprechen. Den Sinn des Krieges sieht er darin, "die russischsprachige Bevölkerung vor den Angriffen nationalistischer Gruppierungen zu schützen". Michail verspricht, "mit einem Sieg zurückzukehren". Wie dieser aussehen soll, weiß er aber nicht.

Ängste, Propaganda und Unwissen

Nach offiziellen Angaben wurden in Russland 300.000 Menschen mobilisiert, weitere 18.000 sind Freiwillige. Nikolay Mitrokhin von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen sagt dazu: "Es gibt zwar Freiwillige, aber offenbar sind es nicht so viele. Dann gibt es solche, die dem Ruf des Vaterlandes folgen - und sie sind damit einverstanden, dass das Land über sie als militärische Ressource verfügt. Solche finden sich meist unter ehemaligen Militärs." Doch die meisten wollen Mitrokhin zufolge eigentlich gar nicht in die Armee, fürchten aber, deswegen verfolgt zu werden.

Mobilisierte Russen im südrussischen Krasnodar stehen in einer Reihe vor Kommandeuren, Ende September 2022
Mobilisierte Russen im südrussischen Krasnodar, Ende September 2022Bild: AP/dpa/picture alliance

Margarita Zavadskaya, Postdoktorandin am Aleksanteri-Institut für Russland- und Osteuropastudien an der Universität Helsinki, weist darauf hin, dass Männer, die beim Einberufungsamt Gerechtigkeit suchen, einer Illusion erliegen. "Sie wollen nicht wahrhaben, dass der Staat willkürlich Menschen an die Front schickt und sie wie Kanonenfutter behandelt", sagt sie. Laut Zavadskaya folgen die Männer der Einberufung, weil der Staat es so angeordnet hat: "Viele von ihnen sind in Behörden oder Staatsunternehmen beschäftigt."

Die Psychologin Maria Potudina glaubt, dass viele mobilisierte Männer sich der realen Gefahr im Krieg nicht bewusst sind: "Daran ist vor allem die Propaganda schuld, die die Gefallenen verschweigt, als würde es sie nicht geben." Einberufen würden vor allem Männer, die weniger gebildet seien und kaum ihre Rechte kennen würden. Zudem werde den Menschen vom Kindergarten an beigebracht, keine eigene Meinung zu haben und sich unterzuordnen. "Der dritte Grund ist, dass es für viele Männer schlimmer ist, als 'Feigling' dazustehen, als in den Krieg zu ziehen", so Potudina.

Pawel, der Fahrer aus Westsibirien, sagt, er wisse nicht, was die Politiker mit dem Krieg bezwecken. "Es wäre besser, wir würden weiterleben wie bisher", betont er. Anton Truschin ist besorgt, weil ihm nicht klar ist, wie dieser Konflikt enden kann. Alexej hingegen empfiehlt, sich mental zu stärken. "Viele meiner Freunde haben an der Front so viel gesehen, dass ihr Kopf nicht mehr in Ordnung ist. Sie können nicht mehr zurück ins normale Leben", erzählt er. Und Michail, der an der Front ist, sagt, er habe dort von "unsinnigen Todesfällen" gehört und er wolle nicht auf diese Weise sterben.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk