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PolitikUkraine

"Mir fehlt ein Bein, aber ich habe Träume"

Maryna Barba
12. April 2023

Mit 18 Jahren zog Ruslana Danilkina freiwillig in den Krieg. Sie geriet unter Beschuss und verlor ein Bein. Im DW-Gespräch erzählt die junge Ukrainerin, wie sie es schafft, trotzdem ans Leben und ihre Träume zu glauben.

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Ruslana Danilkina im Park (Porträtaufnahme)
Lässt sich vom Träumen nicht abhalten: Ruslana DanilkinaBild: DW

"Zunächst war ich unglücklich darüber, dass ich überlebt habe. Es war sehr schwierig, mein neues Leben zu akzeptieren", sagt Ruslana. Sie setzt sich auf eine Parkbank, stellt ihre Krücken neben sich und fährt fort: "Aber ich habe begriffen: Auch wenn mir jetzt ein Bein fehlt, lebe ich, ich kann aufstehen und gehen, zwar mit Krücken, aber es geht." Ruslana geht jeden Tag in Odessa spazieren. Das Leben in ihrer Heimatstadt gebe ihr die Kraft, die sie jetzt dringend brauche, sagt sie.

"Ich wollte unbedingt an die Front"

Vor einem Jahr ging Ruslana Danilkina als Freiwillige an die Front, um die Ukraine gegen Russlands Invasion zu verteidigen. Damals war sie 18 Jahre alt. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht. In den ersten Monaten des Krieges hatte sie noch gezögert, denn der Dienst in der Armee war ihr fremd. "Meine größte Angst war, dass ich nicht wusste, worauf ich mich einlasse und wie lange ich von Zuhause wegbleibe. Aber ich wollte losziehen, dies ist mein Land und ich liebe es sehr. Ich dachte, je mehr dies tun, desto stärker werden wir sein. Mir war klar, dass ich keine Wunder vollbringen kann, aber ich wollte etwas tun, um meinem Land zu helfen", erinnert sich Ruslana.

Als Vorbild dienten ihr ihre Eltern. Ruslanas Mutter und Stiefvater waren schon 2015 im Donbass im Rahmen der damaligen ukrainischen Anti-Terror-Operation im Einsatz, die sich gegen die von Russland kontrollierten sogenannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" richtete. Auch im Februar 2022, als die großflächige russische Invasion der Ukraine begann, zogen sie als Freiwillige in den Krieg.

DW-Korrespondentin Maryna Barba (l.) und Ruslana Danilkina (r.) in einem Park in Odessa
Spaziergang im Park, jeden Tag: Ruslana Danilkina (rechts) in OdessaBild: DW

Ruslana schloss sich im April der ukrainischen Armee an. Anfangs wurde sie damit betraut, Akten in Saporischschja zu bearbeiten. Aber sie wollte näher an der Front. Aufgrund ihres jungen Alters wurde ihr Wunsch mehrmals abgelehnt, aber sie setzte sich durch und wurde schließlich im Bereich der Kommunikation eingesetzt. Ruslana machte ihren Dienst bis zu dem Tag, der ihr Leben völlig veränderte.

"Ich konnte nicht glauben, dass ich ein Bein verloren habe"

Es war der 10. Februar 2023. Ruslana und ihre Kameraden waren bei einem Kampfeinsatz in der Region Cherson unterwegs. Plötzlich setzte ein russischer Artilleriebeschuss ein und ein Splitter traf den Beifahrersitz, auf dem die junge Frau saß. "Ich erinnere mich gut an den Moment der Explosion. Ich duckte mich, aber ich erinnere mich nur noch daran, wie ich nach meinem Knie griff. Mir war sofort klar, was passiert war, aber ich konnte nicht glauben, dass ich ein Bein verloren hatte. Ich fragte meine Kameraden, was los sei, doch sie schwiegen", sagt Ruslana über diesen Tag.

Nur durch Zufall blieb sie am Leben. An ihrem Fahrzeug kamen Sanitäter vorbei, die ihr Erste Hilfe leisteten, sodass sie nicht verblutete. Sie wurde in ein anderes Fahrzeug gebracht - und dort sah sie ihr abgetrenntes Bein. Unter Schock schloss sie die Augen. So fuhr sie den ganzen Weg bis zum Krankenhaus.

Ruslana wurde in der Stadt Tschornobajiwka operiert. Die Ärzte versuchten, ihr Bein zu retten, aber vergebens. Es musste oberhalb des Knies amputiert werden. Noch am selben Tag wurde Ruslana nach Mykolajiw gebracht, wo sie drei Tage blieb, bevor sie zur Behandlung in ihre Heimatstadt Odessa verlegt wurde. Im Krankenhaus weinte die junge Frau tagelang, doch irgendwann entschied sie sich, weiterleben zu wollen.

Die größte Stütze ist für sie seitdem ihre Familie. Vor allem ihr Bruder Wladyslaw und seine Frau Angelina stehen Ruslana bei. Auch tausende Menschen auf der ganzen Welt ermutigen sie täglich in sozialen Netzwerken. Auf Instagram hat Ruslana derzeit über 37.000 Follower.

"Ich erinnere mich an die erste Operation in Odessa, als die Leute von meiner Geschichte erfuhren", sagt die Soldatin und erzählt weiter: "Als ich danach auf die Station gebracht wurde, hatte ich einfach keine Zeit, über mein Bein nachzudenken und ob es weh tut. Ich war ständig mit meinem Handy beschäftigt, weil mir sehr viele Leute schrieben, und sie schreiben mir bis heute."

"Ich habe auf Schmerzmittel verzichtet"

Ihr Wille zum Leben macht Ruslana in den Augen vieler zu einem Symbol für Kraft und Stärke. Doch den Verlust eines Beines hatte sie nicht sofort akzeptiert. "Ich weiß nicht, welcher Tag genau es war, an dem ich diese Realität hingenommen habe. Erst dachte ich, mich daran gewöhnt zu haben. Doch als ich zu Spaziergängen nach draußen ging und wieder auf die Station kam, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein! Ich erinnere mich, wie ich drei oder vier Wochen nach der Amputation draußen war und mein Bruder ein Foto von mir machte. Ich schaute es mir an und ich sah mich ohne Bein. Ich denke, dass ich mir immer noch nicht voll bewusst gemacht habe, was passiert ist."

Ruslana Danilkina sitzt auf einem Stuhl zwischen zwei Betten im Krankenhaus
Follower im Krankenhaus: Ruslana Danilkina nach einer OPBild: Privat

Auf die Frage nach ihrem jetzigen Befinden sagt Ruslana, dass sie sich jetzt viel besser fühle, sowohl körperlich als auch seelisch. Aber auch zwei Monate nach der Tragödie plagen sie Phantomschmerzen. "Ich habe längst auf intramuskuläre Schmerzmittel verzichtet. Das war mein eigener Wunsch. Denn ich wollte das Bein so spüren, wie es ist. Natürlich kamen die Schmerzen zurück, aber mit der Zeit nehmen sie ab. Zudem erklärt mir mein Psychologe, wie ich meinem Gehirn mitteilen soll, dass das Bein weg ist", erläutert sie. "Denn das Gehirn erinnert sich an das Bein vor der Verwundung und sendet weiterhin Impulse dorthin. So entsteht dieser Schmerz."

Derzeit nimmt sie nur noch Beruhigungsmittel ein, um ihre Nerven zu stützen. Bis vor kurzem hatte sie noch schwere Panikattacken. Medikamente und eine regelmäßige Psychotherapie helfen ihr, dieses Problem Schritt für Schritt zu überwinden.

"Ich will wieder Schlittschuh laufen"

Insgesamt wurde Ruslana fünfmal operiert. Derzeit ist sie in einem Sanatorium und bereitet sich auf eine Beinprothese vor. Jeden Tag wird ihr Bein vermessen, um herauszufinden, ob der Umfang noch abnimmt. Das ist für Auswahl und Anpassung der Prothese wichtig. Außerdem wird Ruslana bald mit Übungen beginnen, um Muskeln wieder aufzubauen, die sich in den vergangenen zwei Monaten zurückgebildet haben.

Dank Spenden bekommt die Ukrainerin eine moderne, in Deutschland hergestellte Prothese. Sobald sie lernt, damit zu leben, will sie ihre neuen Träume verwirklichen. Unter anderem will sie wieder Schlittschuhlaufen gehen. "Ich träume auch von einem Fahrrad. Auch wenn mir ein Bein fehlt, heißt das nicht, dass ich diese Träume nicht leben kann."

Trotz ihres Leids will die junge Frau andere Kriegsversehrte motivieren, den Glauben ans Leben nicht zu verlieren: "Ich möchte den Menschen zeigen, dass alles möglich ist und dass man nicht herumsitzen und sich verstecken muss. Wenn einem etwas zugestoßen ist, ist das beängstigend, es tut weh - aber das Leben geht weiter. Man muss es leben."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk