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Politik

Ukraine aktuell: Evakuierung in Mariupol gestoppt

6. März 2022

Neue Kampfhandlungen machen es unmöglich, Zivilisten aus der belagerten Stadt zu bringen. Beide Seiten geben sich die Schuld dafür. Immer mehr Menschen verlassen die Ukraine. Ein Überblick.

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Ukraine-Russland Krieg Angriff auf Mariupol
Menschen suchen Schutz in einem Krankenhaus in MariupolBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

 

Die wichtigsten Informationen in Kürze:

  • Erneut Evakuierungsversuch in Mariupol gescheitert
  • Zahl der Flüchtlinge nimmt zu
  • Festnahmen nach Anti-Kriegsdemos in Russland
  • Macron telefoniert erneut lange mit Putin
  • USA und EU beraten über Importstopp für russisches Öl

Die Rettung von Zivilisten aus der von Russland belagerten Hafenstadt Mariupol ist erneut gescheitert. Zunächst hatten die örtlichen Behörden mitgeteilt, mit den russischen Truppen sei eine elfstündige Waffenruhe vereinbart worden. Doch am Mittag hieß es von ukrainischer Seite, die Aktion sei abgebrochen worden, aufgrund der andauernden russischen Angriffe. Das Rote Kreuz sprach vom "Fehlen einer detaillierten und funktionierenden Übereinkunft". Die Menschen lebten in Schrecken und suchten verzweifelt nach Sicherheit.

Nach ukrainischer Darstellung sind die Bewohner seit Tagen ohne Strom und Heizung. Schon am Samstag war eine Feuerpause für einen humanitären Korridor nicht eingehalten worden, wofür sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich machten.

Die Situation in Mariupol ist nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) "katastrophal". Sie verschlimmere sich "von Tag zu Tag", sagte der MSF-Notfallkoordinator in der Ukraine, Laurent Ligozat. Es sei "unerlässlich", dass die Zivilbevölkerung über einen humanitären Korridor aus der Stadt geholt werde.

Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach von einer "humanitären Blockade" durch russische Einheiten. Diese hätten alle 15 Stromleitungen für die Stadt ausgeschaltet. Da die Heizkraftwerke für ihren Betrieb Strom benötigten, sitze man auch in der Kälte. Auch der Mobilfunk funktioniere ohne Strom nicht. Noch vor Beginn des Krieges sei die Hauptwasserleitung abgetrennt worden, und nach fünf Kriegstagen habe man auch die Reservewasserversorgung verloren. Es gehe um nichts anderes, als die "Ukraine von den Ukrainern zu befreien, so sehe ich das", sagte Boitschenko.

Zahl der Flüchtlinge nimmt zu

Nach mehr als einer Woche Krieg fliehen immer mehr Ukrainer aus ihrer Heimat - vor allem in die Länder der EU. Nach aktuellen Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR sind bereits 1,5 Millionen Menschen vor dem russischen Angriffskrieg geflohen. "Dies ist die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg", teilte die Organisation mit. Allein in Polen sind rund 922.400 Flüchtlinge eingetroffen. 

Polen | Ukrainische Flüchtlinge übernachten in einer Lagerhalle in Przemysl
Ukrainische Flüchtlinge übernachten in einer Lagerhalle in Przemysl (Polen)Bild: Hesther Ng/ZUMA/Imago

Auch in Deutschland ist die Zahl der Flüchtlinge deutlich gestiegen. Die Hauptstadt Berlin kommt nach den Worten von Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) an ihre Belastungsgrenze. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums registrierte die Bundespolizei bis Sonntag deutschlandweit 37.786 Geflüchtete aus der Ukraine - und damit fast 10.000 mehr als am Vortag. Ein Sprecher des Ministeriums wies aber darauf hin, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher sein könnte.

Nach Einschätzung des Migrationsforschers Herbert Brücker könnten die Zahlen bereits kommende Woche größer sein als die Fluchtbewegung in den Jahren 2015/16. "Im Laufe der kommenden Woche werden wir, sofern die dramatische Entwicklung anhält, die Schwelle von 2,4 Millionen Geflüchteten, also den gesamten Umfang der Fluchtmigration der Jahre 2015 und 2016 in die EU, übertreffen", sagte Brücker der Zeitung "Rheinischen Post". "Noch nie sind seit den großen Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkriegs in so kurzer Zeit so viele Menschen geflohen."

Festnahmen nach Anti-Kriegsdemos in Russland

Bei neuen Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine sind in Russland nach Angaben von Bürgerrechtlern mehr als 4400 Menschen festgenommen worden. 2035 von ihnen seien in der Hauptstadt Moskau festgesetzt worden, 1150 weitere in der Ostsee-Metropole St. Petersburg, teilte die Organisation Owd-Info am späten Sonntagabend mit. Insgesamt habe es Proteste in mehr als 60 russischen Städten gegeben. Das Innenministerium hatte zuvor von landesweit rund 5200 Teilnehmern und mehr als 3500 Festnahmen bei den nicht genehmigten Kundgebungen gesprochen. Das Team des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny veröffentlichte auf Youtube Videos - darunter eines von einer Gruppe älterer Frauen,
die "Nein zum Krieg!" rufen.  

Proteste in Moskau
In Moskau tragen Polizisten eine Demonstrantin weg Bild: Sergei Fadeichev/TASS/dpa/picture alliance

Seit Beginn des russischen Krieges in der Ukraine am 24. Februar wurden laut Owd-Info knapp 11.000 Demonstranten festgenommen.

Derweil wurde bekannt, dass der Chefdirigent des weltbekannten Moskauer Bolschoi Theaters, Tugan Sochijew, seinen Posten abgibt. Zugleich legte er auch sein Amt als Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole im französischen Toulouse nieder. Da er zu der "untragbaren Wahl" zwischen seinen russischen und französischen Musikern genötigt worden sei, habe er sich entschieden, beide Leitungen aufzugeben. Viele Menschen hätten eine Positionierung "zu dem, was derzeit passiert", erwartet. Ohne den Krieg in der Ukraine konkret zu nennen, erklärte Sochijew, er habe niemals bewaffnete Konflikte unterstützt und immer mit den Opfern aller Konflikte mitgefühlt.

Macron und Erdogan telefonieren mit Putin

Während die russischen Angriffe auf die Ukraine weitergehen, wird auf diplomatischer Ebene versucht, auf Kreml-Chef Wladimir Putin einzuwirken. So telefonierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erneut fast zwei Stunden mit Putin. Anschließend zeigte er sich besorgt über einen möglicherweise kurz bevorstehenden Angriff auf die Hafenstadt Odessa. Macron unterstrich zudem, dass in der Ukraine eine Verhandlungslösung gefunden werden müsse und dass die Atomanlagen des Landes geschützt werden müssten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erneuerte in einem Telefonat mit Putin seine Forderung nach einer Waffenruhe und bot sich als Vermittler an. Es müssten dringend Schritte für eine Waffenruhe, für die Öffnung humanitärer Korridore und für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens eingeleitet werden, hieß es in Ankara.

Neue Verhandlungen am Montag geplant

Eine dritte Runde der Gespräche zwischen der Ukraine und Russland soll Anfang kommender Woche stattfinden. Das teilte der Leiter der ukrainischen Delegation, David Arachamija, per Facebook-Nachricht mit. Später sagte der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki im Staatsfernsehen: "Die dritte Runde kann wirklich in den nächsten Tagen stattfinden. Möglich ist es am Montag, dem 7. (März)." Zunächst war mit weiteren Gesprächen bereits an diesem Wochenende gerechnet worden.

Selenskyj: "Vergleicht Donezk und Charkiw"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief unterdessen seine Landsleute erneut dazu auf, russische Truppen aus dem Land zu drängen. "Wir müssen nach draußen gehen! Wir müssen kämpfen! Wann immer sich eine Gelegenheit bietet", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. Die Ukrainer sollten wie in Cherson, Berdjansk oder Melitopol "dieses Übel aus unseren Städten vertreiben". Aus diesen Orten gab es in den vergangenen Tagen Berichte darüber, dass sich unbewaffnete Menschen russischen Einheiten entgegenstellten. 

Laut dem Generalstab in Kiew liegt der Hauptfokus der russischen Angreifer neben Mariupol weiter in der Umzingelung der Hauptstadt Kiew, der Millionenmetropole Charkiw im Osten und der Stadt Mykolajiw im Süden. Russische Einheiten versuchten, in die Außenbezirke von Kiew einzudringen und näherten sich der Autobahn nach Boryspil, wo Kiews internationaler Flughafen liegt. Russland plane zudem die Einnahme des Wasserkraftwerks Kaniw rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro und habe einen Flughafen im westukrainischen Gebiet Winnyzja zerstört.

Von russischer Seite hieß es, die Armee und die von ihr unterstützten Separatisten seien im Osten weiter auf dem Vormarsch. Bei den Angriffen hätten sich die russischen Streitkräfte elf Kilometer weit ins Landesinnere bewegt. Fünf weitere Ortschaften seien unter Kontrolle gebracht worden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Die prorussischen Rebellen in den Regionen Luhansk und Donezk brachten demnach insgesamt elf Ortschaften unter ihre Kontrolle. Die Angaben beider Seiten können nicht unabhängig überprüft werden.

Infografik Welche Teile der Ukraine werden von russischen Truppen kontrolliert DE

"Gesamte Nation zum Kampf mobilisiert"

Marcin Buzanski, leitender Berater beim Warschauer Sicherheitsforum (WSF), sagte der Deutschen Welle: "Es gab keine Sekunde lang Zweifel, dass die Ukrainer bis zum Ende kämpfen werden." Es sei klar, dass "die gesamte ukrainische Nation in diesem Moment zum Kampf mobilisiert ist". Diese Mobilisierung sei "ein Zeichen dafür, dass die Ukraine nicht aufgeben wird", fügte Buzanski hinzu.

Mit Blick auf gegen Russland gerichtete Sanktionen meinte Buzanski vom WSF, diese seien "nicht so stark, wie sie sein könnten". "Es gibt immer noch Oligarchen, die nicht sanktioniert werden. Es gibt immer noch Energielieferungen. Es wird immer noch Öl gekauft. Das muss sofort aufhören."

WHO: Verletzung der medizinischen Neutralität

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat unterdessen bestätigt, dass es seit Beginn der Invasion mehrere Angriffe auf Gesundheitszentren in der Ukraine gegeben hat. Dabei seien mehrere Menschen getötet und verletzt worden, schreibt WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus auf Twitter. Weitere Vorfälle würden untersucht. "Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen oder Beschäftigte verletzten die medizinische Neutralität und verstoßen gegen das internationale Menschenrecht."

USA und EU beraten über Importstopp für russisches Öl

Die USA und die EU beraten inzwischen über eine nächste Stufe an Sanktionen. Dabei geht es um einen möglichen Importstopp für russisches Öl. "Wir sprechen jetzt mit unseren europäischen Partnern und Verbündeten, um auf koordinierte Weise die Aussicht auf ein Verbot der Einfuhr von russischem Öl zu prüfen", sagte US-Außenminister Antony Blinken dem Sender CNN. Die Debatte gehe auch darum, sicherzustellen, "dass auf den Weltmärkten weiterhin ein angemessenes Angebot an Öl besteht."

Bisher wurde der Energiebereich von den Sanktionen weitgehend ausgenommen. US-Präsident Joe Biden hatte einen Importstopp für russisches Öl aber nicht explizit ausgeschlossen. Die Ukraine fordert einen solchen harten Schritt. "Hören Sie auf, russisches Öl zu kaufen", sagte Außenminister Dmytro Kuleba. Russisches Öl und Gas würden "nach ukrainischem Blut riechen". Zudem bat er Blinken um weitere militärische Unterstützung. Die Ukraine benötige dringend Kampfflugzeuge und Luftabwehrsysteme, erklärte er bei einem Treffen an der polnisch-ukrainischen Grenze.

Polen Treffen Antony Blinken und Dmytro Kuleba
Antony Blinken (l.) und Dmytro Kuleba am Grenzübergang Korczowa-KrakovetsBild: Olivier Douliery/AP/picture alliance

Biden telefonierte erneut mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. In dem Gespräch sei es um "Sicherheitsfragen, finanzielle Unterstützung für die Ukraine und die Fortsetzung von Sanktionen gegen Russland" gegangen, twitterte Selenskyj. Das Weiße Haus erklärte, Biden habe die Schritte hervorgehoben, welche die USA und ihre Verbündeten unternommen hätten, "um die Kosten Russlands für seine Aggression in der Ukraine zu erhöhen".

Israels Premier auf Vermittlungsmission

Nach seinem unangekündigten Besuch in Moskau war Israels Ministerpräsident Naftali Bennett überraschend nach Berlin gereist, wo ihn Bundeskanzler Olaf Scholz am späten Samstagabend im Kanzleramt empfing.Wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit mitteilte, informierte Bennett den Kanzler über die Unterredung, die er zuvor mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geführt hatte. Scholz und der israelische Regierungschef hätten vereinbart, "in der Angelegenheit weiterhin eng in Kontakt zu bleiben - gemeinsames Ziel bleibe es, den Krieg in der Ukraine so schnell wie irgend möglich zu beenden."

Bennett sprach im Anschluss an seine Reisen nach Moskau und Berlin auch erneut mit dem ukrainischen Präsidenten. Es sei das dritte Telefonat mit Selenskyj binnen 24 Stunden gewesen, teilte ein Sprecher Bennetts mit, ohne weitere Details zu nennen. Medienberichten zufolge soll die ukrainische Führung Israel gebeten haben, Verhandlungsgespräche auszurichten. Israel hat gute Beziehungen zu Russland und zur Ukraine, befindet sich dadurch aber auch in einem Zwiespalt. 

AA aktualisiert Sicherheitshinweise

Angesichts der Verschärfung der Mediengesetze in Russland rät das Auswärtige Amt (AA) auch bei anderen öffentlichen Bekundungen zu Vorsicht. "Auch private Äußerungen in sozialen Medien können nach diesem neuen Gesetz in der Russischen Föderation mit unberechenbaren persönlichen Risiken verbunden sein", heißt es in aktualisierten Reise- und Sicherheitshinweisen für Russland. "Es wird zu äußerster Zurückhaltung oder alternativ zur Ausreise geraten." Seit Samstag gelte das neue Gesetz, das "die willkürliche Verhängung hoher Haftstrafen für öffentliche Äußerungen ermöglicht", erläutert das AA. Als Reaktion darauf haben mehrere internationale Medien ihre Arbeit in Russland ganz oder teilweise eingestellt.

cwo/ml/haz/djo/fab (dpa, afp, rtr, kna, ap)

Dieser Artikel wird fortlaufend aktualisiert