1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Furcht vor "italienischen Verhältnissen"

Emine Algan
29. März 2020

Auch in der Türkei verbreitet sich das Coronavirus rasant. Die Regierung versichert der Bevölkerung, alles unter Kontrolle zu haben. Doch Ärzte berichten von enormen Versäumnissen bei der Virusbekämpfung.

https://p.dw.com/p/3Zzr0
Türkische Ärzte sind besorgt darüber, dass man im Land Verhältnisse wie in Italien und Frankreich erlebt, wo man mit der hohen Anzahl der Patienten nicht umgehen kann.
Besatzung eines Rettungswagens in der türkischen Hauptstadt Ankara (Symbolbild)Bild: picture-alliance/dpa/XinHua/M. Kaya

Dem Anschein nach macht die türkische Regierung Ernst im Kampf gegen das Coronavirus. Und das ist auch die Auffassung in breiten Teilen der türkischen Gesellschaft. Tatsächlich hat sie zahlreiche Maßnahmen ergriffen: Frühzeitig wurden die Schulen geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt, die Grenze zum Risikoland Iran wurde geschlossen, sogar eine Ausgangssperre für Senioren über 65 Jahren wurde beschlossen.

Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca informiert auf Twitter täglich die Öffentlichkeit über den Stand der Dinge: Hoffnungsfroh verkündet er, wie viele Tests bereits durchgeführt wurden. Sogar die türkische Opposition, die sich üblicherweise in einem Dauerclinch mit der Regierung befindet, scheint zufrieden mit deren Krisenmanagement.

Ärzte zeichnen anderes Bild

Doch nicht jeden überzeugt dieses Bild. Die Deutsche Welle hat mit Ärzten gesprochen, die in türkischen Krankenhäusern Covid19-Patienten behandeln. Die Mediziner, die allesamt anonym bleiben wollen, berichten von enormen Versäumnissen der Regierung und äußern sich sehr skeptisch über die angebliche Bewältigung der Corona-Krise.

Auch Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia in Istanbul wurden zu Beginn der Krise desinfiziert.
Auch Sehenswürdigkeiten wurden zu Beginn der Krise desinfiziert. Hier die Hagia Sophia in Istanbul am 13. MärzBild: AFP/Y. Akgul

"Das Problem ist nicht die Mortalität des Virus. Das Problem ist die überwältigende Zahl der Virusträger. Die Zahl wächst so rasant - selbst auf der ganzen Welt gäbe es nicht genug medizinische Ausrüstung und Atemgeräte, um diesen Andrang zu bewältigen", klagt ein Arzt.

Mangelware Corona-Tests

Gesundheitsminister Koca indes versichert der Bevölkerung, dass genug Tests durchgeführt würden, um die Verbreitung des Virus festzustellen: "7641 Tests wurden in den letzten 24 Stunden durchgeführt", tweetete er etwa am Samstagabend.

Doch zahlreiche Ärzte verweisen darauf, dass zu wenig getestet werde: "90 Prozent unserer Patienten unterziehen sich derzeit einer Corona-spezifischen Therapie, aber bei keinem der Patienten wurde zuvor Covid-19 diagnostiziert, da kaum Tests durchgeführt werden. Nur ein bis zwei Tests sind unter 100 Personen gestattet", sagt ein Arzt der in einem der größten staatlichen Krankenhäuser arbeitet. "Selbst wenn Corona-typische Symptome wie Entzündungen in der Lunge, Fieber oder Husten auftreten, werden keine Tests durchgeführt." Dementsprechend müsse die Dunkelziffer der Corona-Infizierten in der Türkei sehr hoch sein.

Auch ein Allgemeinmediziner, der selber für zehn Tage unter Quarantäne stand und das Coronavirus zuhause an Frau und Kind übertrug, sieht die geringe Anzahl der durchgeführten Tests als Hauptproblem bei der Bekämpfung des Virus: "Ich habe mit einem Arzt über meine Symptome gesprochen und die Behandlung geplant, aber einen Test hat man trotzdem nicht durchgeführt." In seiner Krankschreibung habe man nicht Covid-19, sondern "Rückenschmerzen" vermerkt.

Eine poröse Quarantäne

Ein weiterer Kritikpunkt der Ärzte ist, dass Quarantäne-Maßnahmen nicht eingehalten würden. Ein Krankenhaus-Angestellter berichtet: "Diejenigen, bei denen Verdacht auf Covid-19 besteht, werden zunächst in einem separaten Abschnitt von anderen Patienten isoliert. Aber die Angehörigen der Patienten gehen ein und aus." Von Quarantäne könne man also kaum sprechen.

Auch sehen die Ärzte ein weiteres Problem, das der türkischen Öffentlichkeit noch weitestgehend unbekannt ist: Die Zahl der infizierten Ärzte und anderer Mitarbeiter in Gesundheitsberufen, sagen sie, sei sehr hoch. "Wir haben Kollegen, die auf der Intensivstation liegen und künstlich beatmet werden", berichtet ein Chirurg eines öffentlichen Krankenhauses exemplarisch.

Er sei besorgt darüber, dass man in der Türkei Verhältnisse wie in Italien und Frankreich erlebe, wo die Krankenhäuser die hohe Anzahl der Patienten nicht mehr stemmen können, weil nahezu sämtliche Betten belegt sind. "Noch schlimmere Tage werden auf uns zukommen: In Italien müssen sie entscheiden, wer stirbt und wer am Leben bleibt. Ich frage mich, wie ich das machen soll. Ich habe solche Angst." Laut Medienberichten werden in stark betroffenen Gegenden Patienten mit Komplikationen nur noch behandelt, wenn sie gute Überlebenschancen haben.

Es dauerte in der Türkei zu lange, bis die meisten Menschen zuhause blieben.
Istanbul am 13. März: Viele Menschen in der Türkei unterschätzten weiterhin die Gefahr der Epidemie, sagen ÄrzteBild: Reuters/U. Bektas

Eine unterschätzte Gefahr

Trotz eindringlicher Appelle der türkischen Regierung und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Bevölkerung, zuhause zu bleiben, scheinen viele dem nicht zu folgen. Es wird davon berichtet, dass Senioren trotz Ausgangssperre das Haus verließen. Videos von großen Gruppen, die Hochzeiten feiern, machen in sozialen Medien die Runde.

Viele Menschen würden das Virus nicht ernst nehmen, da andersartige Viren oft eine genauso hohe Sterberate aufwiesen, sagt einer der Ärzte, mit denen die DW gesprochen hat. Hinzu komme, dass 80 Prozent der Infizierten keine ernsten Symptome aufwiesen, betont er: "Daher nimmt selbst in meiner eigenen Familie trotz aller Warnungen niemand die Epidemie ernst." Die Gefahr des Virus, mahnt er, liege aber vor allem in seiner heimlichen Infektiosität: Darin also, dass Covid-19 von Menschen verbreitet wird, die ihre Infektion selbst nicht bemerken.

"Wenn wir die älteren und kranken Menschen nicht verlieren wollen, sollte niemand das Haus verlassen. Es ist unsere einzige Lösung", meint ein anderer Arzt. "Verbreiten Sie diese Botschaft, sagen Sie es Ihren Journalisten-Kollegen. Alle sollten diese Botschaft verbreiten." Isolation sei das einzige Mittel zur Verlangsamung, sagt er: "Sonst kann niemand den Ansturm bewältigen. Niemand!"