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Es passt nicht

10. Februar 2011

Seit den Unruhen im arabischen Raum werden im Westen Stimmen laut, die die Demokratie in der Türkei als Modell empfehlen. Ein falscher Ansatz, weil das Türkeibild der Araber negativ sei, meint Baha Güngör.

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Kugelschreiber darunter die Aufschrift Kommentar (Foto: DW)
Bild: DW

In Tunesien stürzte ein Despot. In Ägypten wackelt eine Diktatur. Der Diktator lässt nichts unversucht, um sich und sein Regime zu retten. In weiteren arabischen Ländern zittern die Herrscher vor Furcht wegen drohender Aufstände der Massen gegen sie. Manche versuchen, durch Reformversprechen die erhitzten Gemüter der bislang unterdrückten Menschen zu besänftigen. Die Regierenden in den Staaten des Westens, die bis gestern noch Despoten und Diktatoren die Hand gereicht und gute Geschäfte mit ihnen gemacht haben, erklären ihre bisherigen "Freunde" zu Schmuddelkindern der internationalen Politik.

Porträt von Baha Güngör, Leiter der türkischen Redaktion (Foto: DW)
Baha Güngör, Türkische RedaktionBild: DW

Bei der Suche nach Möglichkeiten, wie umstürzende Regime am besten nach Geschmack des Westens ersetzt werden könnten, ist oft vom "Modell Türkei" die Rede. Der NATO-Staat mit der bei aller Kritik gelungenen Koexistenz von säkularer Grundordnung mit der Volksreligion Islam wird den arabischen Staaten als "nachahmenswert" empfohlen. Doch daraus kann nichts werden.

Türkei gilt als dekadent

Die türkische Republik existiert seit fast 88 Jahren innerhalb ihrer heute noch unveränderten Grenzen. Sie hat viel durchgemacht. Staatsstreiche der Armee, Übergang vom Ein-Parteien-System zur pluralistischen Demokratie, bürgerkriegsähnliche Zustände oder Machtkämpfe mit härtesten Bandagen zwischen Regierenden und Oppositionellen. Am Ende aller Einbrüche behielt die Demokratie stets die Oberhand, weil das Volk sie verinnerlicht hat.

Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk sein Werk westlich orientiert und alle seine Reformen von der Einführung der lateinischen Schrift bis zum aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen durchgesetzt hat, war die Türkei den arabischen Despoten und Diktaturen stets ein Dorn im Auge. Jetzt soll ausgerechnet das Land, das Araber als "dekadent" ablehnten, ein "Modell" für sie sein? Mitnichten!

Große Mentalitätsunterschiede

Die Welt der Araber erstreckt sich von Marokko im Westen bis nach Irak im Osten oder bis nach Jemen im Süden. Die Gesellschaften, die Menschen, ihre Mentalitäten und Temperamente sind sehr heterogen. Sie haben tief verwurzelte Kulturen, die sich von denen der Türken, deren Ursprünge bis in die heutige Mongolei oder bis zur Volksrepublik China reichen, stark unterscheiden.

Das Osmanische Reich stand im Zentrum der islamischen Welt, der Sultan in Istanbul war der Thronfolger des Propheten Mohammed, der Kalif. Die türkische Republik ging aus Schutt und Asche eines Imperiums hervor. Atatürk gelang, was ihm niemand zugetraut hatte, nämlich die säkulare Basis für das hoch gelobte Zusammenleben von Islam und Demokratie und die Einführung weltlicher Gesetze.

Europäer in Erklärungsnot

Wenn jemand glaubt, die arabische Welt und vor allem die arabischen Despoten würden daran denken, dieses System zu übernehmen, so ist das nichts anderes als Wunschdenken an der Realität vorbei. Nicht zuletzt stünden vor allem die Europäer in der Pflicht, zu erklären, warum die Türkei, deren Heranführung an die Europäische Union wegen angeblicher Untauglichkeit zur Verinnerlichung von westlichen Werten fortlaufend erschwert wird, jetzt plötzlich als "Modell" für die arabischen Länder wieder gut sein soll?

Die Araber werden schon ihre eigenen Systeme für ihre jeweiligen Länder entwickeln müssen. Die Türkei ist bei aller Kritik an Demokratiemängeln, Menschenrechtsfragen oder wirtschaftlichem Nach- und Aufholbedarf ein Unikum in der Region. Es ist für eine Nachahmung in der arabischen Welt überhaupt nicht zu empfehlen.

Autor: Baha Güngör

Redaktion: Mirjana Dikic / Julia Kuckelkorn