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Gefährliches Gezwitscher

1. September 2009

Was bisher nur eine handverlesene Schar von Politikern und Journalisten wusste, wird bei Wahlen inzwischen im Internet schon vorher "ausgezwitschert". Das könnte auch die Bundestagswahl gefährden.

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Junge Frau liest oder schreibt Nachricht auf dem Handy
Bild: picture-alliance / KPA

Schon eineinhalb Stunden vor Schließung der Wahllokale "zwitscherte" es am jüngsten Wahlsonntag (30.08.2009) im Internet: Die deutschen Grünen schaffen den Einzug in alle drei Landtage, die CDU verliert noch mehr als erwartet. Unbekannte Autoren stellten ziemlich genaue Zahlen über den Wahlausgang in Thüringen, Sachsen und dem Saarland in die Kurznachrichten-Plattform "Twitter".

Hatten sie nur gut geraten? Oder verfügten sie bereits über jene Prognosen, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit nur einem kleinen Kreis von Politikern und Journalisten zugänglich sind?

Strafen bis 50.000 Euro

Wahllokal (Foto: DPA)
Direkt in den Wahllokalen werden Umfragen zum Wahlverhalten gemachtBild: dpa - Report

Bei Politikern, Medien und Meinungsforschungsinstituten herrscht Aufregung, weil die gewohnten Rituale durcheinanderkommen. Auch Roderich Egeler sorgt sich um den korrekten Ablauf des Bundestagswahlkampfes in Deutschland am 27.September. Deshalb erinnerte der Bundeswahlleiter nach den jüngsten Landtagswahlen daran, dass die vorzeitige Veröffentlichung von Wählerbefragungen vom Wahltag mit Geldbußen bis zu 50.000 Euro geahndet wird.

Die Wahlforschungsinstitute forderte Egeler auf, mit den Daten "äußerst restriktiv umzugehen". Außerdem werde versucht, die undichte Stelle zu finden, sagte Egeler Anfang September vor Journalisten in Berlin. Alle Landeswahlleiter seien momentan dabei, "wirklich zu hinterfragen, was da passiert ist".

Von der öffentlichen Diskussion erhofft sich Egeler noch einmal eine besondere Sensibilisierung: "Ich hoffe, dass das Thema Twittern für die Bundestagswahl kein Thema wird."

Begehrte Zahlen aus den Wahllokalen

Bundeswahlleiter Roderich Egeler (Foto: DPA)
Bundeswahlleiter Roderich Egeler hofft auf Funkstille am WahltagBild: picture-alliance/ dpa

Von lizenzierten Instituten werden an Wahltagen durch Befragung von tausenden Wählern direkt in den Wahllokalen begehrte Informationen gesammelt. Sie dienen der Analyse über die Wählerwanderungen von einer Partei zur anderen, über Motive der Wahl, soziale Strukturen - und die Zahlen besagen natürlich auch, welche Partei gewählt wurde. Dadurch erlauben die gesammelten Daten, je später es wird, eine ziemlich genaue Prognose, wie der Wahltag ausgehen wird.

Diese Zahlen sind äußerst hilfreich für Politiker und Medienleute, die allerdings zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Dennoch: Auch bei Landtags- und Bundestagswahlen erreichen die etwa ab 16 Uhr unter der Hand kursierenden so genannten Trends üblicherweise nicht nur den Kreis von VIPs, für den sie eigentlich bestimmt sind.

Die ARD habe kein Interesse daran, ihre Zahlen vorzeitig der Öffentlichkeit preiszugeben, versichert der langjährige Chef-Wahlberichterstatter des ARD-Hörfunks, Gerd Depenbrock, jetzt noch einmal in Berlin. "Dennoch kursieren natürlich solche Zahlen, das kann man nicht leugnen", so Depenbrock. "Denn es müssen sich ja viele Moderatoren, Reporter, Redakteure auf die Wahlsendungen und die Interviews vorbereiten. Wir versuchen natürlich, die Zahl der Beteiligten so klein wie möglich zu halten." Daneben gebe es aber auch Institute, die von den Parteien beauftragt wurden, ihnen am Wahltag zuzuliefern. "Und das sind dann natürlich wieder ganz andere Quellen, auf die wir gar keinen Einfluss haben," so Depenbrock.

Verführerische Verbreitungswege

Horst Köhler bei seiner Wiederwahl (Foto: DPA)
Bei der Bundespräsidentenwahl gab es den ersten "Twitter"-FallBild: AP

Der sächsische CDU-Politiker Patrick Rudolph aus Radebeul, von dessen Twitter-Account die Zahlen bei den Landtagswahlen in Sachsen ins Internet gelangt sein sollen, bestreitet seine Urheberschaft und hat seinen Account gelöscht. Doch die neuen Verbreitungswege über Internet und Handy sind verführerisch, vor allem für Wichtigtuer. Schon bei der Bundespräsidentenwahl im Mai hatten schriftführende Politiker von CDU und SPD Horst Köhlers Sieg via Twitter vorzeitig in die Welt hinausposaunt.

Twittern könnte Wahlen beeinflussen

Mit Twitter oder per Massen-SMS wächst jetzt die Möglichkeit, in letzter Minute noch größere Gruppen zu mobilisieren, um die Wahlen zu beeinflussen. ARD-Experte Depenbrock warnt vor den per Internet verbreiteten Trends: Man kenne die Quellen nicht und wisse nicht, wie zutreffend die Zahlen seien. "Nicht ohne Grund legen wir uns an einem Wahltag ja erst um 17:30 Uhr auf die Zahlen fest, die um 18 Uhr veröffentlicht werden."

Aber bei den jüngsten Landtagswahlen lagen die so genannten gezwitscherten Zahlen ziemlich nahe an der 18-Uhr-Prognose. Ein ähnlicher Verrat bei den Bundestagswahlen könnte diese anfechtbar machen - besonders, wenn es knapp wird. Nicht zum ersten Mal könnte es nämlich passieren, dass CDU und SPD nur wenige tausend Stimmen auseinander liegen. Und wer kann dann sagen, wie viele Stimmen auf das Konto von Twitter gehen?

Autor: Bernd Gräßler

Redaktion: Kay-Alexander Scholz