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PolitikTunesien

Tunesien: Hintergründe einer Verhaftung

19. April 2023

In Tunesien ist kürzlich der Chef der oppositionellen Ennahda-Partei, Ghannouchi, verhaftet worden. Die Begründung ist kaum überprüfbar. Doch der Schritt passt zur Politik des immer autoritärer regierenden Präsidenten.

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Rached Ghannouchi bei einem Auftritt im Februar 2023
In Haft: Rached Ghannouchi, Chef der moderat-islamistischen Ennahda-Partei, hier bei einem Auftritt im Februar 2023Bild: FETHI BELAID/AFP

Er befindet sich im Krankenhaus, sein Gesundheitszustand gilt als schlecht. Weitere Details über die gegenwärtige Situation von Rached Ghannouchi sind nicht bekannt, seit der Vorsitzende der gemäßigt islamistischen Ennhada-Partei und ehemalige Parlamentspräsident am Montagabend (17.04.) verhaftet wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen "hetzerischer Äußerungen" gegen den 81-Jährigen, heißt es. Zudem wurden drei weitere Ennahda-Mitglieder verhaftet.

Tunesiens Oppositionsführer Ghannouchi inhaftiert

Kurz vor seiner Verhaftung hatte Ghannouchi erklärt, es sei "unvorstellbar, sich die tunesische Gesellschaft ohne Ennahdha, ohne politischen Islam und ohne Linke vorzustellen." Jeder Versuch, eine der politischen Komponenten auszuschalten, könne nur zu einem Bürgerkrieg führen.

Ghannouchi ist nicht der einzige Oppositionelle in Tunesien, der in den vergangenen Monaten verhaftet wurde. Unter dem autoritär regierenden Präsidenten Kais Saied wurde zuletzt eine ganze Reihe von Kritikern verhaftet, so etwa Oppositionelle, Aktivisten und Richter. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe gleichen sich. Oftmals sind sie der Korruption und "Verschwörung gegen die Staatssicherheit" angeklagt.

Ghannouchi als Chef der größten Oppositionspartei sah sich bereits mehrfach Anklagen und Beschwerden gegenüber. Im November 2022 war er wegen angeblicher Entsendung von Dschihadisten nach Syrien und in den Irak vernommen worden. Einige Monate zuvor hatte man ihn wegen des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche im Zusammenhang mit Geldtransfers aus dem Ausland an eine Ennahda nahestehende Wohltätigkeitsorganisation verhört.

Der tunesische Präsident Kais Saied auf einer Konferenz in Brüssel, Februar 2022
Auf autoritärem Kurs: Tunesiens Präsident Kais SaiedBild: Johanna Geron/REUTERS

Ein weiterer Sündenbock?

Die Verhaftung Ghannouchis markiere eine "neue Phase" der politischen Krise", erklärte Ahmed Néjib Chebbi, der Vorsitzende des im Frühjahr vergangenen Jahres gegründeten oppositionellen Parteienbündnisses Front de Salut national (FSN). Dem FSN gehört auch die Ennahda-Partei an. Die Verhaftung sei "blinde Rache an den Oppositionellen", so Chebbi weiter.

Es sei sehr schwierig, die gegen Ghannouchi erhobenen Vorwürfe zu überprüfen, sagt Isabell Werenfels, die an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zu den Staaten Nordafrikas forscht. Zu dem Fall seien keine relevanten Untersuchungsergebnisse veröffentlicht worden. Es sei aber beispielsweise tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass Ghannouchi oder die Ennahda-Partei Überweisungen aus dem Ausland erhalten hätten. "Allerdings gibt es Indizien, dass auch andere politische Akteure in Tunesien von außen unterstützt werden."

Grundsätzlich aber, so Werenfels im DW-Gespräch, ziele Präsident Saied auf immer neue Sündenböcke für die zahlreichen Probleme im Land. Dazu zählten neben Oppositionspolitikern auch Migranten aus Subsahara-Afrika. Anfang März hatte Saied von diesen als "Kriminellen", gesprochen, die nicht zur arabischen und islamischen Kultur gehörten. Zudem wies er die örtlichen Sicherheitskräfte an, illegale Migranten aus Subsahara-Ländern aus Tunesien auszuweisen. Daraufhin kam es teils zu tätlichen Angriffen gegen die Migranten. Es gab allerdings auch mehrere Initiativen tunesischer Bürger, die den Bedrängten beistanden.

"Präsident Saied versucht immer wieder, neue Gruppen zu finden, die er für die Probleme im Land verantwortlich machen kann", so Werenfels. "Auch Rached Ghannouchi bietet sich dafür natürlich an. Denn er ist in der Tat bei weiten Teilen der Bevölkerung sehr unbeliebt." Als Parlamentspräsident war Ghannouchi aufgrund seines rigiden Auftritts eine umstrittene Figur. Auch in seiner eigenen Partei wurde sein Führungsstil vielfach kritisiert. So hatte er nach Kritik an seiner Politik im August 2021 den Parteivorstand entlassen.

Migranten aus Subsahara-Afrika in Tunesien, hier bei einer Kundgebung im Frühjahr dieses Jahres
Sündenböcke: Migranten aus Subsahara-Afrika in Tunesien, hier bei einer Kundgebung im Frühjahr dieses JahresBild: Hasan Mrad/Zumapress/dpa/IMAGESLIVE /picture alliance

Wirtschaftskrise und Dürre

Die Verhaftung Ghannouchis findet vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise statt. Lebensmittel werden knapper und teurer, immer mehr Tunesier haben Schwierigkeiten, ihre Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Verschärft wird die Krise durch eine  anhaltende Dürre, in deren Folge jüngst sogar das Wasser knapp wurde und darum inzwischen teils rationiert wird.

In dieser Situation hatte sich die tunesische Regierung im Oktober vergangenen Jahres mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf ein Rettungspaket in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar geeinigt. Die Vereinbarung sieht den Abbau von Subventionen für Lebensmittel und Energie vor; öffentliche Unternehmen werden umstrukturiert, die Lohnkosten im öffentlichen Sektor gesenkt. Experten erwarten, dass dies zu einem erheblichen Stellenabbau in der öffentlichen Verwaltung führen dürfte, die etwa ein Drittel des Landeshaushalts ausmacht. Angesichts weitreichender Proteste in der Bevölkerung hat Saied das Abkommen noch nicht unterschrieben. Es könnte weitere starke Proteste gegen ihn selbst befördern.

Angesichts dieser Situation dürfte es sich bei der Verhaftung Ghannouchis wohl um ein weiteres Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Problemen handeln, meint Expertin Werenfels. "Es ist nicht ausgeschlossen, dass Präsident Saied sich auf diese Weise noch einmal die Gunst der Bevölkerung zu erkaufen versucht. Auf dieser Grundlage könnte er dann das in der Bevölkerung sehr unpopuläre IWF-Abkommen vorantreiben." Diese Woche treffen sich Beamte des IWF mit Vertretern der tunesischen Regierung, um über die Zukunft des Darlehens zu verhandeln.

Blick auf das völlig vertrocknete Staubecken Chiba im Nordosten Tunesiens
Vertrocknet: Das Staubecken Chiba im Nordosten TunesiensBild: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

Widerstreitende Prioritäten in der EU

Die Europäische Union kommentierte die Verhaftung Ghannouchis umgehend. Man verfolge die jüngsten Entwicklungen in Tunesien, insbesondere die Verhaftung von Rached Ghannouchi, "mit großer Sorge", erklärte Nabila Massrali, EU-Sprecherin für Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU warte auf offizielle Informationen über die Gründe für die Verhaftung. Zugleich erinnere sie an die Rechte der Verteidigung sowie an das Recht auf ein faires Verfahren, so Massrali weiter. Auch ein Sprecher der deutschen Regierung kritisierte am Mittwoch (19.04.) die Verhaftung Ghannouchis. Er sprach von einer "Erosion demokratischer Strukturen" in Tunesien.

Allerdings sorgen sich einige EU-Staaten, allen voran Italien, zugleich um ein weiteres mit Tunesien verbundenes Problem, nämlich die ansteigende Migration. Dem italienischen Innenministerium zufolge kamen dieses Jahr bereits mehr als 32.700 Migranten über den Seeweg nach Italien. Einem Bericht der EU-Grenzschutzagentur Frontex zufolge könnte die Vorjahreszahl von 330.000 in diesem Jahr bereits im Sommer erreicht sein. In dem gleichen Bericht heißt es, dass Tunesien inzwischen Libyen als Haupt-Transferland abgelöst hat: 57 Prozent der in Italien ankommenden Migranten bestiegen dort die Schlepperboote.

So sei man in der EU zwar zum einen konsterniert, dass die demokratischen Reformen in Tunesien, die man großzügig unterstützt habe, rückgängig gemacht würden, so Werenfels. Zugleich löse aber auch die irreguläre Migration Sorgen aus. "Das heißt, es gibt innerhalb der EU zwei sich nicht unbedingt deckende Prioritäten." Es sei anzunehmen, dass Europa Tunesien aktuell trotz aller anderslautenden Bekundungen vor allem mit dem Ziel unterstütze, die irreguläre Migration einzuhegen. "Darüber könnte die Frage der Demokratie beziehungsweise des wachsenden Autoritarismus in den Hintergrund treten", befürchtet die Tunesien-Expertin.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika