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Tulln als Vorbild bei der Flüchtlingshilfe

Alison Langley, Tulln / AR14. Januar 2016

Wie kann man Flüchtlingen am besten helfen? In der österreichischen Stadt Tulln gehen die Bürger einen besonderen Weg: Einzelne Familien werden gezielt unterstützt. Von Alison Langley, Tulln.

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Altstadt von Tulln - Foto: A. Schauhuber (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/A. Schauhuber

Juni 2015, in der südsyrischen Stadt Daraa: Die damals dreijährige Selena al Refai und ihre Cousine schlafen gerade, als eine Mörsergranate die Wand durchschlägt. Das Geschoss explodiert nicht, setzt aber den Balkon des Appartements im dritten Stock in Brand. Die beiden Mädchen werden nicht verletzt. Aber der Zwischenfall sorgt dafür, dass es der Familie endgültig reicht. "Ich dachte", sagt Selenas Vater, der Arzt Rabee al Refai, "ich kann nicht hier bleiben und meine Kinder sterben sehen." Der 32-jährige al Refai und seine 27 Jahre alte Frau Rawan al Masalmeh entschieden sich, mit ihren Kindern fliehen.

Inzwischen lebt die syrische Familie in einem Vorort der österreichischen Stadt Tulln, gut eine Stunde von Wien entfernt. Zum ersten Mal in ihrem Leben können Selena und ihr zweijähriger Bruder Karim unbeschwert spielen, herumtollen und Kinderfernsehen gucken - ohne in der Angst vor Geschossen leben zu müssen. Selena geht hier sogar schon in den Kindergarten.

Zerstörung in Daraa, Syrien - Foto: A. el Ali (Anadolu Agency)
Zerstörungen in Daraa (Sommer 2015): "Ich kann nicht hier bleiben und meine Kinder sterben sehen"Bild: picture-alliance/AA/A. el Ali

Und Vater Rabee al Refai ist endlich wieder in einem Krankenhaus tätig, wenn auch nur als Praktikant. Es sei schön, dass jetzt wieder etwas Normalität in ihr Leben eingezogen ist, sagt al Refai. Er muss nun Deutsch lernen und strebt seine Arztzulassung in Österreich an, damit er wieder Patienten behandeln kann.

Ein neues Leben in Österreich

Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun schon fast fünf Jahre und die beiden Eheleute sind sich sicher, dass der Konflikt nicht so schnell zu Ende gehen wird. Deshalb sind Rabee al Refai und Rawan al Masalmeh entschlossen, sich in Österreich ein neues Leben aufzubauen.

Der Neustart läuft nicht bei allen Syrern so glatt wie in diesem Fall. Dem Asylantrag der Familie Refai wurde Ende Dezember stattgegeben, nur vier Monate nach ihrer Ankunft in Österreich. Ein Grund dafür: Rabee al Refai unternahm alles, um aus der Masse der 95.000 Flüchtlinge herauszustechen, die im vergangenen Jahr Asyl in Österreich beantragt haben. Ein weiterer Grund: Die extrem große Bereitschaft der Bürger in ihrem Umfeld, gerade diese Flüchtlingsfamilie unter die Fittiche zu nehmen. Die al Refais bekamen Unterstützung - und zwar jede Menge: Von Helfern, von Nachbarn und von einer Gruppe von Ärzten und Schwestern vom Universitätsklinikum Tulln.

So bekam die Familie nach ein paar Telefonaten ein neues Zuhause: die möblierte Wohnung eines Arztes, der gerade im Ausland ist. Die Unterstützer organisierten für Tochter Selena einen Platz im Kindergarten. Helfer zeigten den al Refais, wo man am besten einkauft oder eine Bibliothek findet und wie man die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt.

"Luxus-Fürsorge"

Einer der Unterstützer, der Tullner Chirurg Bernhard Zeh, nennt das Ganze "Luxus-Fürsorge". Seiner Ansicht nach hängt das große Engagement mit einem Beschluss der Bürger zusammen. Die Tullner hatten im September entschieden, einer kleinen Gruppe Asylbewerbern besonders zu helfen. Es sei ein großer Unterschied, ob man Einzelnen helfe oder versuche, an der Lösung eines großen Problems mitzuwirken. Wenn es tausende Hilfsbedürftige gibt, fühle man sich leicht überfordert, argumentiert Zeh. "Aber wenn es um eine einzelne Familie geht, kann man sagen: 'Oh, ich kann dies oder jenes übernehmen'."

Im September trafen sich dann Ehrenamtliche mit Vertretern der Stadt, um zu besprechen, wie man helfen könnte. "Die Stimmung war sehr positiv", so Zeh. Jeder hätte mit angepackt. Anstatt darauf zu warten, dass ihnen von der Regierung Asylbewerber zugeteilt würden, suchten sie lieber selber nach hilfsbedürftigen Flüchtlingen. Und dabei las dann einer von Zehs Kollegen einen Zeitungsartikel über Rabee al Rafai.

Richtige Wälder und Bürokratie-Dschungel

Damals waren die Refais - nach ihrer gefährlichen Flucht - noch in einer alten Kaserne im nahe gelegenen Klosterneuburg untergebracht. Sie gehörten zu den 250 Menschen, die in dem Übergangslager lebten. "Wir haben viele Freunde dort", sagt Rawan al Masalmeh. Jeder dort habe ihren Ehemann Rabee al Refai gekannt - er sei freundlich und hilfsbereit gewesen, habe die Dinge in die Hand genommen.

Sabine Gösker - Foto: Ingrid Krammer
Unterstützerin Gösker: "Jede Gelegenheit wahrgenommen, sich einzubringen"Bild: Ingrid Krammer

Schon auf dem Weg von Syrien nach Klosterneuburg, hatte sich al Refai als Übersetzer nützlich gemacht. Seine guten Englischkenntnisse halfen ihm auch, seine Familie nach Österreich zu lotsen - sowohl durch richtige Wälder, als auch durch den Dschungel der Bürokratie. Im Durchgangslager Klosterneuburg machte er sich bald als Übersetzer unersetzlich.

Er habe nicht so lange gewartet, bis jemand ihn gebeten habe zu helfen, sagt die Fotografin Sabine Gösker, Gründerin der überparteilichen Initiative "Klosterneuburg hilft". "Er nahm jede Gelegenheit wahr, sich einzubringen." Als Gösker Refai bat, an der österreichisch-ungarischen Grenze zu helfen, kam er sofort mit. Er konnte zwar keine Medikamente verschreiben, half aber auch dort als Übersetzer. Dabei entstand dann auch jener Zeitungsartikel über den 32-Jährigen, der später im Uniklinikum Tulln für Aufmerksamkeit sorgte.

Hilfsarbeiten trotz Uniabschluss

Gleich am ersten Werktag des neuen Jahres hat Rabee al Refai mit seinem Praktikum in der Uniklinik angefangen. Es wird aber noch lange dauern, bis er hier als Arzt praktizieren darf. Sein Abschluss muss anerkannt werden, er muss ein Examen für Österreich ablegen und sein Deutsch muss so gut werden wie sein Englisch.

Doch zunächst ist ihm etwas anderes wichtiger: "Es ist ein gutes Gefühl, wieder in einem Krankenhaus tätig zu sein", sagt al Refai. Er fühle sich nicht mehr wie ein schwacher und machtloser Flüchtling, sondern wie ein Mediziner. Sein Tullner Kollege Bernhard Zeh ist sicher, dass al Rafai alle Hürden überwinden wird, um in Österreich Arzt zu werden. Andere Flüchtlinge hätten das nicht geschafft und müssten nun trotz Uniabschluss Hilfsarbeiten machen.

Zeh erinnert sich an eine bosnische Familie, die vor 20 Jahren vor dem Balkankrieg nach Österreich geflohen war. Der Vater war früher Lehrer und arbeitet nun als Gärtner, die Mutter war Bibliothekarin und geht jetzt putzen. Doch ihr Sohn hat es geschafft: Er ist nun ebenfalls Arzt am Uniklinikum Tulln. Das macht dem syrischen Familienvater Rabee al Refai Mut - zumindest was seine vierjährige Tochter Selena angeht. "Vielleicht wird sie auch Ärztin. Und sie wird es besser machen als ich!"