1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

4. Menschen mit Behinderung in Corona Zeiten

27. November 2020

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. In Folge 4 wird diskutiert, dass Menschen mit Behinderung in besonderem Maß von COVID betroffen sind.

https://p.dw.com/p/3lobF

Zum Podcast geht es hier.

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Ich bin Matthias Klaus und heute geht es um das Thema, was uns alle seit über einem halben Jahr beschäftigt. Die Welt ist anders geworden seit Corona. Das macht natürlich auch vor Menschen mit Behinderungen nicht halt.

Im Gegenteil. Viele von uns fanden sich plötzlich in der Risikogruppe wieder, hatten es besonders schwer, im Lockdown mussten Betroffene ihre Assistenz neu Regeln oder waren als Heimbewohner von Isolation betroffen. Über all das möchte ich heute reden mit der Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Schönen guten Morgen, Frau Bentele.

Verena Bentele: Einen schönen guten Morgen.

Matthias Klaus: Was genau ist der VdK? Sie haben zwar 1,8 Millionen Mitglieder, aber es kann ja durchaus sein, dass den Verband jemand nicht kennt. 

Verena Bentele: Also erst mal haben wir schon über zwei Millionen Mitglieder. Da bin ich sehr stolz darauf als Präsidentin. Deswegen erzähle ich es auch jedem. Wir sind der größte Sozialverband Deutschlands, gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg als damals Verband der Kriegsversehrten, Kriegs-Hinterbliebenen, Witwen und Waisen.

Wir haben uns damals schon um das Thema Rente für Menschen mit Schwerbehinderung gekümmert, um Hilfsmittelversorgung, um Rentenansprüche der Menschen, die wir vertreten. Das hat sich eigentlich bis heute nicht gewandelt. Gewandelt haben sich natürlich die Mitglieder. Heute sind viele Menschen bei uns Mitglied, die zum Beispiel den Grad der Behinderung beantragen wollen.

Es sind Menschen Mitglied, die Probleme mit dem Thema Rente haben, die selber pflegende Angehörige sind oder Pflege brauchen, Menschen, die unterschiedliche soziale Notlagen haben. Und es sind auch Menschen bei uns Mitglied, die tatsächlich einfach sagen Ich möchte eine sozialpolitische Interessensvertretung, die meine Belange und Interessen vertritt, die sich in die Sozialgesetzgebung einmischt und für mich kämpft.

Dass z.B. Erwerbsminderungsrentnerinnen und Rentner mehr Geld zur Verfügung haben oder dass für Menschen mit Behinderungen endlich Barrierefreiheit deutlich mehr Bewegungsfreiheit verschafft. Dafür brauchen wir immer noch eine Barrierefreiheit, die verpflichtend ist für alle Anbieter. Genau für solche Themen setzt sich der Sozialverband VdK heute ein.

Matthias Klaus: Was auch vielleicht fast alle kennen, ist ihre Biografie. Vielleicht haben wir auch welche, die das nicht kennen. Deswegen machen wir hier jetzt mal kurz einen kleinen biografischen Einspieler zum Thema Verena Bentele.

Erzählerin/Erzähler: Verena Bentele wurde 1982 in Lindau am Bodensee geboren. Seit 1995 war sie Mitglied der Nationalmannschaft im Skilanglauf und Biathlon. Bis 2011 hat sie an vier Paralympischen Spielen, drei Weltmeisterschaften und zwei Europameisterschaften teilgenommen. Sie gewann dort zahlreiche Medaillen und Weltmeistertitel. Seit 2011 ist sie freie Referentin und Motivationstrainerin. Von 2014 bis 2018 war Bentele Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seitdem ist sie Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Verena Bentele ist von Geburt an blind. Ziele erreichen und Grenzen verschieben sind ständige Themen ihres Lebens. 

Matthias Klaus: Frau Bentele, das Thema "Grenzen und Ihre Überwindung" spielt bei Ihnen eine große Rolle. Haben Sie durch Corona selbst Grenzen erfahren?

Verena Bentele: Ich habe durch Corona zum Glück im Gegensatz zu vielen anderen nicht sehr schwierige Grenzen erfahren. Ich konnte weiterhin z.B. gut arbeiten, weil ich: A. von zuhause arbeiten kann und B. auch in beiden Büros, sowohl in meinem Münchner Büro als auch im Berliner Büro gute Arbeitsbedingungen habe, wo ich eben auch mit viel Abstand arbeiten kann.

Das ging schon. Und wir konnten auch vieles umstellen auf digitale Möglichkeiten mit Video und Telefonkonferenzen. Deswegen war das für mich jetzt nicht so schwierig wie für viele andere, die natürlich in Jobs sind, wie beispielsweise in der Pflege und sich da täglich deutlich höheren Risiken aussetzen.

Wo ich privat tatsächlich Grenzen erfahren habe, ist bei so Alltagsdingen wie einkaufen gehen, weil ich einfach gemerkt habe: Klar, wenn jeder darauf bedacht ist, Abstand zu halten, ist es total schwierig, jemanden zu finden beim Einkaufen, der mir dann hilft. In den ersten Corona Monaten war ich tatsächlich eigentlich überhaupt nicht alleine einkaufen, sondern bin entweder mit Freunden mitgegangen oder hab mir was mitbringen lassen.

Ich habe bestellt, also hab mir einfach anders zu helfen gewusst, weil ich eigentlich in dem Laden allein gar nicht mehr klar gekommen bin und die Leute wirklich ja alle auch nicht wussten, wie sie damit umgehen. Heute, wo wir alle ans Maske-Tragen gewöhnt sind usw. ist das alles wieder ein bisschen einfacher geworden. Aber am Anfang der Corona Lockdown Zeit war es schon schwierig.

Matthias Klaus: Dieses Abstandhalten: ein Meter fünfzig ist ja eigentlich für einen Blinden praktisch unmöglich. Wie gehen Sie damit um? Gehen Sie überhaupt raus? 

Verena Bentele: Ich gehe auf jeden Fall raus und ich erlebe ganz unterschiedliche Dinge. Ich bin schon vor der Apotheke angeschrien worden, dass ich den Abstand nicht einhalte, wo ich dann auch denke: Okay, bisschen netter und normaler wird es auch gehen. Ich würde es auch verstehen, wenn man mir einfach sagt, "Hier ist das Ende der Schlange. Sie können sich hinter mich stellen".

Aber da sind viele Leute einfach mit ihren eigenen Ängsten sehr beschäftigt. Das ist schon ein großes Thema, finde ich. In Bussen und Bahnen beispielsweise, die ich auch benutze, geht's im Moment schon noch ganz gut, weil auch noch nicht so voll ist. Das wird sicherlich dann auch im Herbst vielleicht wieder anders, wenn die Schule wieder anfängt in allen Bundesländern.

Dann sind sicher auch wieder mehr Leute da, die jetzt im Urlaub sind und zurück bei der Arbeit. Im Winter gibt es natürlich auch nicht mehr so viele die Fahrrad fahren, sondern auch wieder mehr die Öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Dann wird es sicherlich auch nochmal eine Herausforderung.

Aber ich gehe schon raus und ich versuche da irgendwie schon klarzukommen, weil ich einfach meine Unabhängigkeit ja auch nicht aufgeben möchte.

Matthias Klaus: Was sind denn so die größten Probleme von Schwerbehinderten während der Corona Zeit?

Verena Bentele: Ein großes Problem ist natürlich das Thema: Maske. Das war immer ein Riesenthema für die einen, die gesagt haben Maske tragen ist für mich schwierig, weil ich beispielsweise eine chronische Erkrankung habe. Andere können die Maske vielleicht auch aus motorischen Gründen gar nicht so gut aufsetzen oder wegen Atemproblemen vielleicht nicht nutzen. 

Das ist so eine Gruppe der Menschen, die sich an uns gewendet hat, die gesagt haben, "Wir brauchen Ausnahmeregelungen". Die andere Gruppe der Menschen, die sich an uns gewendet haben, sind dann aber wiederum Personen, die gesagt haben, "Maske ist das, was mein Leben schützen kann. Ihr müsst dafür sorgen, dass die Leute Maske tragen und dafür werben". Das war zum Beispiel ein großes Thema.

Ein anderes Thema ist z.B. auch gewesen, dass uns ein Mitglied geschrieben hat: Ihre Tochter ist eigentlich in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung und arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Sie war an einem Wochenende zuhause und wollte dann am Montag zurück in die Einrichtung. Und die Einrichtung hat dann gesagt: Wir können sie nicht mehr aufnehmen. Sie haben die Einrichtung verlassen und dann musste die Mutter gucken, wie sie Arbeit, Unterstützung, Betreuung der Tochter und ihr Leben irgendwie alles unter einen Hut kriegt und das über Wochen.

Das waren schon auch echt gravierende Probleme, gegen die wir uns auch sehr gestellt haben oder wo wir uns da eingesetzt haben für deren Lösung. Weil wir natürlich gesagt haben, es kann eben auch nicht sein, dass in Pflegeheimen niemand mehr aufgenommen wird, dass Menschen, die aus ihrer Einrichtung eben ein Wochenende zuhause sind, dann auch wenn sie einen negativen Test haben, nicht mehr aufgenommen werden.

Das kann irgendwie echt nicht sein. Oder dass z.B. auch diese Besuchsverbote solange so streng waren, auch in Behinderteneinrichtungen oder Pflegeeinrichtungen. Das war auch ein Thema für den VdK, weil wir eben auch sagen: Es kann für Menschen, die beispielsweise Demenz haben, ja auch nicht der Weg sein, dass sie dann wochenlang niemanden mehr haben von ihren vertrauten Personen, der bei ihnen ist und sie unterstützt.

Am Anfang waren diese drastischen Maßnahmen oft nicht so gut verträglich für die Menschen. Man hat sie zwar einerseits vielleicht vor Corona geschützt, aber andererseits sehr viele psychische Einschränkungen in Kauf genommen.

Matthias Klaus: Was konnte denn der VdK da fordern? Am Ende ist es ja doch einfach auch viel Schicksal.

Verena Bentele: Was wir natürlich gefordert haben, dass beispielsweise in Pflege und Behinderteneinrichtungen, die Angehörigen mit der nötigen Schutzausrüstung, mit Masken, Desinfektionsmitteln und vielleicht Schutzanzügen eben trotzdem rein dürfen, dass eben Orte des Treffens organisiert werden.

Wir fordern zum Beispiel aber auch, dass im Bereich Schule Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien unterstützt werden. Das ist irgendwie auch nicht so richtig geregelt worden, dass die Kinder, die eben kein Tablet oder Laptop oder Handy zu Hause haben, eben auch in irgendeiner Weise am Schulunterricht teilnehmen können.

Da würde ich mal sagen, das ist genau wie bei jedem Schulbuch, das die Schule zur Verfügung stellt und den Kindern ausleiht. Da muss man dann auch die Technik zur Verfügung stellen, wenn man Schule zuhause stattfinden lässt. Da muss es echt auch Lösungen geben für den Fall. 

Matthias Klaus: Es gibt ja auch Fälle von Behinderten, z.B. Leuten, die im Rollstuhl sitzen, die so eine Vollzeitassistenz haben, wo 7 oder 8 Leute beschäftigt sind, die rund um die Uhr assistieren und betreuen. Dazu kam dann ja das Problem, dass erst einmal die Ansteckungsgefahr groß war, die Leute teilweise nicht mehr wussten, ob sie da überhaupt noch arbeiten gehen können. Aber diese Menschen praktisch ohne Assistenz nicht funktionieren. Wie sehen Sie das? Ist da alles getan worden, um diese Härten abzufedern, dass die Leute mit hohem Assistenzbedarf wirklich weiter gut durch die Krise kommen können?

Verena Bentele: In dem Fall finde ich es wirklich total schwierig - auch was da politisch gemacht wird. Man muss sich schon gut überlegen, weil für viele Menschen war das natürlich auch ein Problem, wenn die Assistenz selbst irgendwie krank war oder vielleicht Teil einer Risikogruppe und dann nicht mehr die Arbeit machen konnte, ist es ja auch gar nicht so leicht jemanden zu finden.

Da kann auch die Politik nur begrenzt was machen. Aber klar ist eben schon, dass die politischen Rahmenbedingungen dafür jetzt gerade auch erst geschaffen werden müssen, damit Menschen ihre Assistenz zuhause weiter nutzen können und das nicht die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung jetzt der einzige richtige und sinnvolle Weg sind.

Das hat sich eigentlich meines Erachtens wieder sehr gut bestätigt in den letzten Monaten. Das ist etwas, was wir auch fordern als VdK, dass jeder ein Menschenrecht hat, dort zu leben, wo er oder sie auch leben möchte. Da finde ich war diese Zeit wirklich auch nochmal ein guter Hinweis zu fragen wie wichtig es ist, den Menschen das zu ermöglichen und eben nicht zu sagen: Wer z.B. Intensivpflege braucht, wer 24 Stunden Beatmung braucht, der soll dafür unbedingt in eine Einrichtung gehen. Sondern da kann eben auch ein Umfeld zuhause doch sehr viel Sicherheit und auch sehr viel Risikoarmut bedeuten.

Erzählerin/Erzähler: Sie hören echt behindert den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast Plattformen. E-Mail Feedback und Kommentare an: echt.behindert@dw.com.

Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/Wissenschaft und bewerten Sie uns auf iTunes oder wo immer Sie uns hören.

Matthias Klaus: Ein anderes Thema,das wir in den letzten Monaten hatten, was auch mit Corona zu tun hat und wo wir es jetzt möglicherweise wieder kriegen, wenn die zweite Welle kommt, ist ja die Frage mit den Behandlungen in den Krankenhäusern. Es muss entschieden werden, wenn es nicht genug intensiven Betten gibt, wer am Ende behandelt werden darf und wer nicht. Da gab es jetzt von dem Bündnis AbilityWatch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht. Wie stehen Sie zu dieser Klage? Halten Sie das für sinnvoll?

Verena Bentele: Ich bin immer noch der Meinung, in Deutschland haben wir den medizinischen Standard, der erst einmal allen Menschen die bestmögliche Versorgung garantieren muss. Das ist auch immer mein wichtigster Punkt, den ich anführe. Im Moment haben wir in Deutschland nicht die Situation und hatten die auch nie, dass diese Entscheidung anstand.

Das ist wirklich auch die Frage, wie man diese Entscheidung am Ende, wem man die geben und überlassen möchte. Denn erst einmal ist das Ziel in der Verfassung ganz klar: Die Würde des Menschen - und damit ist jeder Mensch gemeint - ist unantastbar.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich: Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Das Grundgesetz wird diese Frage nicht beantworten können, weil nach dem Grundgesetz jeder das Menschenrecht auf die bestmögliche Versorgung hat.

Das ist erst einmal meine große Forderung und mein wichtigstes Thema, das wir eigentlich eher gucken: Was gibt unsere medizinische Versorgung in Deutschland her. Auch wenn in einem Krankenhaus die Betten zwar ausgeschöpft wären. Wo sind andere Möglichkeiten zur Versorgung?

Ich bin da sehr skeptisch, weil ich immer denke, "Okay, durch die Klage erzielt man unterschiedliche Dinge". Das ist natürlich eine Diskussion über so ein Thema. Da kann man noch sagen, "das ist nicht schlecht". Aber ich glaube, für viele Menschen bedeutet genau diese Klage und die große Diskussion auch eine extreme Intensivierung ihrer Ängste.

Da hab ich ein bisschen Sorge, dass viele Menschen sich jetzt schon Gedanken machen, "was passiert mit mir, wenn ich Corona kriege"? Bekomme ich dann überhaupt eine Versorgung? Derzeit stellt sich glücklicherweise diese Frage definitiv nicht, sondern alle Menschen, die Versorgung brauchen, bekommen die auch.

Matthias Klaus: Mir ging das zu Anfang auch so, als die Debatte aufkam. Ich bin blind. Ich sah mich plötzlich da auf der Liste und man denkt "Okay, wenn es jetzt ernst würde, dann würden die dann sagen, "Wieviel wert ist dieses Leben"? Das sind natürlich Fragen, die einen wirklich sehr bedrängen. Auch da bleibt es am Ende zu hoffen, dass das nie eintritt. Ich möchte auch kein Arzt sein, der das entscheiden kann. 

Verena Bentele: Wenn wir die Frage jetzt diskutieren wollen, gegen und für wen wir uns dann entscheiden, da vertrete ich dann viele Menschen, die z.B. älter sind. Im VdK sind sehr viele alte Menschen Mitglied. Ich werde natürlich auch nie sagen, ich finde es richtig, wenn das Alter am Ende das wichtigste Kriterium ist, wenn jemand, der 80 ist, keine gute Versorgung mehr bekommt.

Da wird der VdK sich immer gegen wehren. Deswegen ist unser Credo eben tatsächlich, dass wir in Deutschland dafür sorgen sollten, für alle Menschen maximal gute Versorgung zu haben - etwas, das wir im Moment auch gewährleisten können hier im Land. 

Matthias Klaus: Am Anfang, also zurzeit, als die Leute auf den Balkonen geklatscht haben, hieß es Vielleicht ist das ja auch mal ganz schön, dass wir mal innehalten und mal nachdenken und die Modelle des Lebens überprüfen können. Können Sie da irgendetwas beobachten? Hat Corona irgendwas Positives gehabt? Gibt es irgendetwas, wo man auch aus Sicht von Behinderten sagen kann? Das war eigentlich ganz nützlich, dass wir da mal drüber nachdenken.

Verena Bentele: Was es schon gebracht hat, dass die Berufe, die sonst oft sehr schlecht bezahlt sind, wie beispielsweise die Berufe der Kassiererinnen oder auch zum Teil eben in der Altenpflege, dass genau über solche Berufe jetzt natürlich deutlich mehr gesprochen wird.

Das ist ein Riesenvorteil, weil wir jetzt eben auch sehen: Das wird so auf Dauer nicht weitergehen. Wenn wir nicht mehr Menschen finden, die diese Berufe ausüben, dann werden wir viele Probleme kriegen, wenn wir immer mehr pflegebedürftige Menschen haben. Wir haben immer mehr Menschen, die eben auch aufgrund ihrer Behinderung Unterstützung brauchen. Das hat die Wertigkeit von diesen Jobs schon nochmal deutlich verändert. Das ist auch eine gute Sache.

Eine andere wirklich schöne Sache ist natürlich, dass der Begriff "Solidarität" wieder so eine Renaissance - gerade so ein bisschen -  erlebt, dass sich doch viele Menschen einfach toll helfen: dass sich Nachbarn gegenseitig unterstützt haben beim Einkaufen, dass sich Menschen einfach auch super großzügig angeboten haben, anderen Unterstützung zu geben und da überhaupt daran zu denken.

Vielleicht hätten sie das früher auch gemacht, die Unterstützung zu geben, aber dann hätte der andere wahrscheinlich fragen müssen. Aber so während der Corona Zeit: Ich konnte gar nicht so viele Angebote annehmen wie mir gemacht wurden von Nachbarn und Freunden usw., die mich alle immer angerufen oder geschrieben haben. Z.B. haben die gesagt, "Ich gehe gerade einkaufen. Brauchst du irgendwas?" Ich war so super versorgt, da war ich auch total dankbar, dass da die Hilfsbereitschaft so groß war und das hab ich auch von vielen anderen Menschen so gehört.

Matthias Klaus: Was würden Sie denn sagen ist unbedingt von der Politik noch zu regeln, damit gerade die Leute mit erhöhtem Bedarf, gerade die Leute, die der VdK vertritt, seien es nun Alte, Kranke, Behinderte, gut durch die zweite Hälfte der Krise kommen?

Verena Bentele: Was auf jeden Fall wichtig ist und eine gute Sache ist, dass die große Koalition "ja" zur Verlängerung des Kurzarbeitergeldes sagt. Auch das ist für viele unserer Mitglieder natürlich relevant, weil wir merken schon, dass immer mehr Mitglieder zu uns kommen, weil sie Grundsicherung beantragen müssen, weil sie ihren Job verloren haben oder weil sie beispielsweise vielleicht auch in einer Arbeitssituation sind, wo sie aufgrund ihres Risikos nicht mehr arbeiten können.

Eine andere Geschichte ist aber beispielsweise für viele unserer Mitglieder wichtig, für Rentnerinnen und Rentner, die bisher Minijobs hatten um ihre Rente aufzubessern. Wenn die wegfallen, ist für viele Menschen das Leben schon echt hart und die Tafeln arbeiten vielleicht auch noch eingeschränkt. Da müssen viele wirklich sehr gucken, wie sie dann überhaupt noch klar kommen.

Für Menschen mit Behinderung ist für mich tatsächlich das Entscheidende: Einerseits den Schutz so groß wie möglich zu halten, durch beispielsweise das Abstand-Halten und Mund und Nase Bedeckung Tragen. Die andere Thematik ist aber eben auch die Unterstützung zu geben, für die die Assistenz brauchen. Da bemüht sich die Politik auch hier vielleicht Assistenz zu finden für Leute, deren Assistenten nicht mehr arbeiten können.

Das ist eine schwierige Geschichte. Aber da Unterstützung zu geben, ist natürlich eine gute Sache. Auch die finanzielle Unterstützung vor allem. Natürlich geht es auch darum, in den Einrichtungen Konzepte zu entwickeln, dass Menschen mit Behinderungen nicht von der Außenwelt abgeschnitten sind, sondern weiterhin Kontakt zu Angehörigen haben, beispielsweise.

Matthias Klaus: Als Corona wirklich ernst wurde, ungefähr nach dem 15. März, gab es so einen Fokus auf die Krankheit, auf den Umgang damit. Man hatte so ein bisschen das Gefühl, es gab auch viele Pressemeldungen. Behinderte dürfen in der Corona Zeit nicht vergessen oder übersehen werden, dass so die Themen, die wir sonst so haben: Barrierefreiheit, Inklusion, all das in den Hintergrund gerät. Man hat einen Eindruck, das ist vielleicht nur was für gute Zeiten. Wie sehen Sie das? Hat die deutsche Gesellschaft das trotzdem hingekriegt oder haben wir im Moment keine Zeit für Luxusprobleme wie Inklusion an Schulen?

Verena Bentele: Die Frage kann ich gar nicht so eindeutig beantworten. Im Moment ist die Zeit eigentlich toll dafür, Systeme wirklich mal in Frage zu stellen. Das ist eine Chance. Jetzt kommt meine Einschränkung. Die wird aber nicht immer so richtig gut genutzt, weil für Inklusion an Schulen müsste genau jetzt eine gute Zeit sein, weil jetzt ja immer noch die Frage ist, "Wie können Kinder und Jugendliche in kleineren Gruppen lernen"?

Das wäre auch Corona-technisch sicherer für alle. Jetzt wäre die Zeit beispielsweise für bessere technische Ausstattung zu sprechen. Alle Dinge, die der Inklusion förderlich sind, wie kleinere Lerneinheiten, individuellere Förderung und bessere technische Ausstattung, also alle Dinge, die auch der Inklusion förderlich sind. Die könnte man jetzt gut umsetzen.

Deswegen: wenn man es richtig gut machen würde, würde man jetzt die Chance nutzen und die Systeme mehr in Frage stellen. Die Herausforderung ist aber natürlich: Wir haben im Moment so viele Themen und Probleme, die in unserer Gesellschaft gerade relevant sind, dass ich da natürlich nicht so richtig sicher bin, wie diese Themen wirklich angepackt werden.

Matthias Klaus: Corona und Behinderung: Haben wir alle Chancen genutzt? Gibt es eventuell Dinge, die man gerade jetzt tun könnte?

Das war Verena Bentele, die Präsidentin des VdK, hier bei mir zu Gast. Frau Bentele, ich danke Ihnen sehr herzlich für diese Informationen und für diese Auskünfte und auch für Ihre Meinung. Ich hoffe, dass wir alle zusammen gut durch die Krise kommen werden.

Verena Bentele: Danke. Ich wünsche Ihnen auch. Tschüss!

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" von der Deutschen Welle. Mein Name ist Matthias Klaus. Mehr Folgen und mehr Infos unter dw.com/Wissenschaft.

Zum Podcast geht es hier

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.