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22. Plötzlich sichtbar – Behinderung am Arbeitsplatz

17. Juni 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Nur 4 % der Schwerbehinderungen bestehen von Anfang an.

https://p.dw.com/p/3ucxW

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Heute hab ich endlich mal wieder einen leibhaftigen Menschen hier zu Gast im Studio. Kein Telefon, kein Zoom, kein Teams. Hier sitzt außer mir wirklich noch jemand im Studio. Das ist wunderbar. Wir werden uns unterhalten über Behinderung am Arbeitsplatz, darüber, wie es ist, Karriere zu machen und plötzlich eine sichtbare Behinderung zu haben. Genau das ist geschehen mit Eileen Lensch. Sie ist in leitender Funktion bei der Bundespolizei. Und plötzlich kam sie im Rollstuhl zur Arbeit. Herzlich willkommen, Frau Lensch.

Eileen Lensch: Vielen Dank! Hallo!

Matthias Klaus: Wie war das, als Sie den ersten Tag mit Ihrem Rollstuhl im Büro aufgeschlagen sind?

Eileen Lensch: Mir war physisch im Vorwege bereits übel. Nicht, dass es mir hätte übel sein müssen. Aber mir war übel, weil ich überlegt habe: "Herrjeh! Wie fühlt sich das an, meine eigene  Dienststelle zu betreten, in der ich vorher Fußgängerin war und nun im Rolli sitze? Und wie werden meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reagieren? Und ups, ich bin ja gar nicht mehr auf Augenhöhe."

Matthias Klaus: Wie lange ist das denn jetzt her? 

Eileen Lensch: Das ist sechseinhalb Jahre her. 

Matthias Klaus: Konnten Sie sich vorher schon mental vorbereiten? Wussten Sie: Das wird irgendwann kommen? Oder ist da etwas Plötzliches geschehen? 

Eileen Lensch: Na, sagen wir mal: Mit allen neurologisch erkrankten Menschen, die irgendwann wissen, dass sie von einer Fußgängerin oder Fußgänger zum Rollifahrer werden, schiebt man das einfach unendlich lange hinaus und verdrängt das, bis es nicht mehr geht. Ich wusste es, hab's aber mit Erfolg verdrängt. Und als es dann irgendwann soweit war, habe ich mich dann der Tatsache mit Wissen und Wollen gestellt. 

Matthias Klaus: Können Sie nochmal kurz sagen, was das für eine neurologische Erkrankung ist, die Sie dazu bringt, den Rollstuhl zu nutzen? 

Eileen Lensch: Also mich begleitet eine generalisierte Dystonie. Das ist eine neurologische Bewegungsstörung, die höchst überwiegend im Hirn organisch verursacht wird. Und so ist es bei mir auch. Das heißt: Im Schaltzentrum für Bewegung im Gehirn herrscht bei mir ein sogenanntes Störfeld. Warum weiß man gar nicht so ganz genau. Und es werden zu wenig hemmende Signale gesendet. Und ich kann mich halt nicht so bewegen wie andere und manchmal auch gar nicht.

Matthias Klaus: Können Sie sich dann noch bewegen oder ist es komplett vorbei?

Eileen Lensch: Ich kann mich bewegen, aber ich bewege mich per se nicht immer willentlich. Das heißt: Ich habe Bewegungen, die ich einfach so mache, ohne dass ich sie eigentlich hätte machen wollen.

Matthias Klaus: Dann hatten sie das irgendwann. Und vorher konnten Sie auch noch ohne Rollstuhl auf die Arbeit kommen und es ging noch immer gerade so. War das viel Mühe, das zu verbergen?

Eileen Lensch: Verborgen habe ich tatsächlich eher nichts, weil das Konzentrieren auf das Arbeiten und das geistig wie körperlich unterwegs sein, mir gar nicht mehr die Möglichkeit eingeräumt hätte, es zu verbergen. Das heißt: Je geistig und körperlich aktiver man bei meiner Erkrankung ist, desto auffälliger sind auch die sichtbaren Symptome. Und das (zu verbergen) war mir zu mühselig.

Matthias Klaus: Gibt's denn Dinge, die Sie heute rein physisch nicht mehr machen können, die früher zu Ihren Aufgaben gehört haben? 

Eileen Lensch: Laufen und Schwimmen. Aber Schwimmen hatte jetzt nicht tatsächlich zu meinen Aufgaben gezählt. Aber das zählt halt zu einer sogenannten Polizeidiensttauglichkeit dazu, dass man eben rennen kann, ausdauerlaufen kann, schwimmen kann, tauchen kann. Und das kann ich jetzt gerade mal nicht mehr.

Matthias Klaus: Aber sie hatten auch, bevor Sie den Rollstuhl bekamen, schon einen Bürojob oder waren Sie noch im Feld?

Eileen Lensch: Nein, ich bin als sogenannter Quer- oder Seiteneinsteiger in die Polizei gekommen. Das heißt, ich habe ein Hochschulstudium absolviert, in der freien Wirtschaft gearbeitet und bin dann in den höheren Dienst der Polizei quer eingestiegen. Dort habe ich nochmal ein Vollstudium absolviert und von daher musste ich zwar die Aufnahmeprüfung körperlich machen, gar keine Frage, aber ich bin nie jemals wirklich eine "Straßenpolizistin" gewesen - nein, mitnichten. Und das, was meine Kolleginnen und Kollegen auf der Straße leisten, das wäre ich sicherlich auch nicht in der Lage gewesen zu leisten. Da braucht man lange, lange Ausbildung und Übung für.

Matthias Klaus: Vielleicht erzählen Sie mal trotzdem ein ganz bisschen. Was tun Sie da eigentlich, wo Sie arbeiten?

Eileen Lensch: Also im Moment leite ich das Referat für Bahnpolizeiliche Gefahrenabwehr im Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Das ist das sogenannte "Headquarter der Bundespolizei". Ich bin damit grob formuliert im weitesten Sinne Fachvorgesetzte für 5000 bis 6000 Bahnpolizistinnen und Bahnpolizisten. Das heißt, ich schaue mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Wie soll Bahnpolizei fachlich in Deutschland, bundesweit in der linken und rechten Grenze halbwegs einheitlich laufen. Laufen klingt auch lustig als Rollifahrer...

Matthias Klaus: Ah ja. Eh! [Matthias lacht]

Eileen Lensch: Stelle ich auch gerade fest... [mit Sarkasmus]

Matthias Klaus: Durchaus. Also Bahnpolizei. Man stelle sich mal vor: Polizei, das ist eher so ein Fitnessorientierter Job. Kann denn Ihre Behörde oder Ihre Sektion, sagen wir mal (die Bahnpolizei)... Kann die denn überhaupt die Behindertenquote erfüllen? Wissen Sie das?

Eileen Lensch: Bei uns wird die Quote der Behinderten auf die gesamte Behörde berechnet und wir bestehen zu etwa 90 Prozent aus Vollzugsbeamtinnen und Beamten - also Uniformierten - und zu 10 Prozent in der Verwaltung. In der Summe erfüllen wir tatsächlich die Quote. Und im Vollzug, würde ich sagen, liegen wir bei 2,4 Prozent - meine ich im Augenblick. Wobei natürlich im Polizeivollzug bei dem Einsatz von uniformierten Kräften, spielen die nicht-sichtbaren Behinderungen, die weit größere Rolle als die sichtbaren Behinderungen: Sei es Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen... Das kommt im Rahmen des Alterungsprozesses oder eben auch in Folge des dauerhaften Wechselschichtdienstes tatsächlich gar nicht so selten bei über 50-jährigen Beamtinnen und Beamten vor. 

Matthias Klaus: Ja. Die Behindertenquote als erworbene Behinderung sozusagen. Wie ist das denn, wenn ich mich bei Ihnen bewerben wollte? Also gibt es Jobs, die ausdrücklich für Behinderte auch empfohlen werden?

Eileen Lensch: Bei uns in der Verwaltung, ausdrücklich: ja. Das ist die allgemeine Verwaltung. Und wir sind die sogenannte Polizeiverwaltung. In der Polizeiverwaltung gibt es dann wiederum durchaus... Wie soll man das sagen? ...Stützprozesse und Stellen sicherlich in der kriminalistischen Forensik, in der Personalverwaltung, in Geschäftszimmer-Bereichen, die auch mit Schwerbehinderten durchaus besetzt werden können. Aber dass man den Polizeiberuf als schwerbehinderter Mensch erlernen oder studieren kann, das ist per se nicht möglich. Nein!

Matthias Klaus: Sie haben mir neulich erzählt, dass Sie glauben, dass Wolfgang Schäuble, der ja jetzt seit 30 Jahren im Rollstuhl Politik macht, so eine Art unfreiwilliger Türöffner gewesen ist. Glauben Sie denn, ohne den hätten Sie heute Ihren Job nicht mehr?

Eileen Lensch: Nein, das glaube ich nicht. Aber ich denke einfach, dass der Herr Schäuble ein Stück die Unvoreingenommenheit im politischen und höheren Verwaltungsfeld bereitet hat. Tatsächlich, weil sowohl Politikerinnen als auch Politiker oder eben auch Verwaltungsbeamtinnen und Beamte und Angestellte gemerkt haben: "Eigentlich ist der ja noch irgendwie ganz derselbe." Er hat lediglich die Fortbewegungsart gewechselt und ich denke tatsächlich das wirkte. Ich möchte nicht sagen, dass es keinen Einfluss gehabt hat.

Matthias Klaus: Also man hält es einfach inzwischen für möglich, dass Menschen im Rollstuhl solche Dinge tun - was ja wahrscheinlich früher nicht so war.

Eileen Lensch: Ich glaube nicht, dass man es "für möglich hält", sondern ich glaube, über das Erfahren, dass die Menschen weitgehend noch dieselben Menschen geblieben sind, schafft man Möglichkeiten und hält es dann auch irgendwann sicherlich für möglich.

Matthias Klaus: Zurück zu Ihnen als Person: Sie waren ja dann eben plötzlich im Rollstuhl, war Ihnen das irgendwie als Mensch peinlich oder unangenehm?

Eileen Lensch: Total! Na klar! auf alle Fälle! Sie können nie mehr in der Masse verschwinden: Sei es im Privaten, sei es im Öffentlichen, sei es beruflich. Und total! Weil es wird immer auf Sie herabgeguckt. Sie sind überhaupt nicht mehr auf Augenhöhe. Im Gegenteil, sie müssen sich im wahrsten Wortsinn Augenhöhe wieder erarbeiten. Also nicht nur intellektuell. Das ist gar keine Frage. Man muss durchaus an der einen oder anderen Stelle mal sein Gegenüber bitten, Platz zu nehmen, weil ansonsten kriegt man Nackenstarre den ganzen Tag. Also Sie merken ja: Es war mir schon sehr unangenehm am Anfang.

Matthias Klaus: Ja. Hatten Sie auch mal den Gedanken: "Jetzt bin ich nicht mehr leistungsfähig? Ich gehe in die Frühpensionierung" oder wie auch immer das bei Ihnen heißt.

Eileen Lensch: Nein, nicht ein einziges Mal. Mein Beruf ist wirklich meine Berufung. Und das war für mich undenkbar. Und darüber hinaus sage ich mir Gerade in meiner Funktion kommt es deutlich mehr auf Geist, also auf den Kopf an, denn per se auf den Körper. Und ich hätte es mir gar nicht vorstellen können, daheim zu hocken - im wahrsten Wortsinn - und womöglich irgendwie selbstmitleidig auf mich reinzuschauen und Geld vom Staat zu bekommen, obwohl ich ja eigentlich hätte auch weiterarbeiten können. Nee, das konnte ich mir gar nicht vorstellen.

Matthias Klaus: Ja, aber sicher. Und Sie haben ja auch einen exponierten Posten und all das. Aber dennoch halten sie es für möglich, dass Menschen dann aufgeben, wenn Sie plötzlich mit einer Behinderung konfrontiert sind, auch jetzt in so etwas wie einer Bundesbehörde? Oder sind das dann einfach Schwächlinge?

Eileen Lensch: Nein, das sind keine Schwächlinge. Also ich sehe mich auch nicht als das Maß der Inklusion. Ich habe einfach das Glück, in einer komfortablen Führungssituation gewesen zu sein. Und ich habe wiederum das Zutrauen meiner Vorgesetzten in Inklusion und in mein Können. Mir ist schon sehr bewusst: Je niedriger in der Hierarchie sich Menschen mit einer erworbenen Behinderung befinden, desto schwieriger kann es unter Umständen sein, weil sie ja auch wirklich in einem robusten Vollzugsberuf, vielleicht noch mit überkommenen Bildern von: "wie soll ein Polizist eine Polizistin aussehen?" sich noch viel stärker mit Vorurteilen konfrontiert sehen. Und dann werden sie sicherlich auch ein um das andere Mal mit Situationen konfrontiert, die sie müde werden lässt, aufgeben lässt... Ich würde es per se nicht als persönliche Schwäche sehen, sondern das sind Umstände, die sich ereignen. Wir wollen gemeinsam daran mitwirken, dass es besser wird.

Jingle: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Email, Feedback und Kommentare an: echt.behindert@dw.com. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Und bewerten Sie uns, wo immer Sie uns hören.

Matthias Klaus: Wie sind denn die Kolleg*innen damals mit Ihnen umgegangen, als das neu war? Haben Sie ein paar anekdotische Geschichten oder war alles komplett normal?

Eileen Lensch: Meinen Sie Vorgesetzte oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Matthias Klaus: Wie Sie wollen!

Eileen Lensch: Ich befinde mich immer in so einer unterschiedlichen Betrachtungssituation.

Matthias Klaus: Ja, gerne beides. Gerne beides.

Eileen Lensch: Okay, beginnen wir mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die waren natürlich genauso wie ich: erst ein wenig irritiert und vorsichtig und kamen gar nicht so recht damit klar. "Wie soll man jetzt die Tür aufhalten? Denn wenn man einer Dame die Tür ohnehin schon aufhält - aber diese Dame im Rolli sitzt?"

Ich sage Ihnen eins: Da stehen Sie mit den Fußspitzen im Türrahmen, und ich bin diverse Male meinen Mitarbeitern über die Füße gerollt. Und am Humorvollsten war ein Ereignis, da sagte ich zu einem Mitarbeiter: "Vielen Dank. Sie können jetzt gehen." Ich stand aber mit dem Rolli tatsächlich auf seinen Füßen. Er sagte: "Ich würde so gern." Das war dann doch lustig. Wir haben alle gelacht und irgendwann wird es tatsächlich eine relative Normalität für beide Seiten. 

Was meine Vorgesetzten anbelangt, die sind mir mit maximaler Unvoreingenommenheit begegnet, einfach weil sie mich auch schon 20 Jahre vorher gekannt haben. Und ich denke mal, sie haben gesagt: "Wir schauen mal - wir schauen mal, ob das geht oder ob das eben nicht geht." Dann gab es sicherlich auch im erweiterten Kreis Menschen, die der Situation ein Stück weit eher neutral beobachtend gegenübergestanden haben, was ja auch - mit Verlaub - durchaus zulässig ist. Und einige wenige standen der Integration und Inklusion Schwerbehinderter und meiner Person im Polizeivollzug sehr negativ entgegen. Motive und Ursachen sind da rein spekulativ, weil ich mit diesen Menschen nie sprechen konnte, weil ich das tatsächlich immer nur über Zweite und Dritte erfahren habe.

Matthias Klaus: Ja, das sagt man einem ja auch nicht: "Also. Wissen Sie was? Sie bleiben am besten zuhause." Das würde man ja erst einmal nicht sagen - so.

Eileen Lensch: In der Tat. Aber auch da: Ich kann gewisse Ressentiments verstehen, aber Verständnis dafür habe ich indes nicht.

Matthias Klaus: Mit den Kolleginnen und Kollegen im Dienst ist das also alles sozusagen zumindest mal machbar. Und da gibt es ja dann auch den Respekt vor der Person, die man schon lange kennt. Aber man geht ja auch mal abends zusammen raus. So ist es da dann anders. Wie kommen die Menschen da mit ihrer Neugier klar oder mit ihren Vermutungen, die sie über Behinderung haben? Sie haben mir selbst auch hier im Vorhinein schon mal erzählt, dass gerade wenn dann das erste Bier geflossen ist, die Sachen interessant werden.

Eileen Lensch: Ja, in der Tat. Also mit Mitarbeitern und Mitarbeitern geht man eher selten aus. Und da ist es der natürliche Respekt, der eine ganz vernünftig-normale Kommunikation bewirkt, auch wechselseitig mit Vorgesetzten - insbesondere in Uniform - ist das tatsächlich genauso. Da habe ich keine Dinge erlebt, die mich betroffen gemacht hätten.

Aber ich mache gar keinen Hehl daraus, dass in dem Moment, wo ich in benachbarten Behörden unterwegs bin, bei Wirtschaftsunternehmen unterwegs bin, in Forschungseinrichtungen und dann auf den Abendveranstaltungen ich sag mal so "after work chatting," so nach dem ersten Bier tatsächlich aus meiner Sicht sehr intime und auch mitunter grenzüberschreitende Fragen kommen: "So darf ich Sie mal fragen?"

Eigentlich würde ich immer schon gerne sagen: "Nein, dürfen Sie nicht," weil ich weiß genau, was kommt: Die erste Frage ist dann zumeist: "Warum sitzen Sie im Rollstuhl?" Und ich denke immer, Humor hilft. Tut's aber auch nicht. Ich sage, "weil stehen zu viel kippelt." Aber nach Alkohol verstehen die Menschen gar nicht, dass diese Humoreske Einlage ihnen Einhalt gebieten möge.

Und spätestens am zweiten oder dritten Bier kommt es tatsächlich. Und das ist für mich sehr, sehr unangenehm - so Fragen wie: "Wie gehen Sie eigentlich zur Toilette?" Und Sind "Sie verheiratet?" "Haben Sie Kinder?" Und geht es...auch? Na, Sie wissen schon, mit was. Also: "Haben Sie ein Sexualleben?"

Matthias Klaus: Ja. Und haben Sie dann noch Antworten? Oder sagen Sie dann so: "Jetzt verletzen Sie bitte gerade meine Intimsphäre nicht weiter!"?

Eileen Lensch: Im Regelfall drehe ich mich mit meinem Rolli deutlich sichtbar um und wechsle den Tisch. Aber nicht unfreundlich, sondern ich sende nonverbal, sowohl im Polizeiberuf als auch außerhalb des Polizeiberufs. Es ist mir und uns allen klar, dass man Menschen, die durch Alkohol ein Stück weit enthemmter sind, gar nicht in eine Diskussion binden muss, sondern nonverbal deutliche Zeichen gibt, die aber auch dann wechselseitig keine Mauern aufbauen, keine Barrieren, sondern eher die Situation entspannen.

Matthias Klaus: Ja, mir als einer, der blind ist: mir geschieht das ja auch regelmäßig. Und natürlich gibt es die Position: "Wir Behinderten sind irgendwie immer im Dienst. Wir müssen die Menschen aufklären." Aber es gibt eben auch Tage, da will man es einfach nicht: "Heute möchte ich keine intime Frage beantworten. Bitte lasst mich in Ruhe. Ich gehe jetzt einfach hier. Nur zur Arbeit! Nicht sprechen!" 

Eileen Lensch: Ja. Ich verstehe!

Matthias Klaus: So, und dann gibt's auch Tage, da kann ich stundenlang reden. Und ich denke mal, das muss man auch jedem zugestehen, das es auch von der Tagesform abhängt, wie viel man da einfach erträgt an dieser Stelle. Geht Ihnen das auch mal so, dass Sie das gut können und mal schlecht?

Eileen Lensch: Ah, Sie merken, ja... Ich bin ja durchaus quirlig und auch nicht ganz so wenig beredt. Aber über meine private Situation oder auch über meine gesundheitliche Situation spreche ich aber eher wenig. Wenngleich mich Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter Fragen, bekommen sie auch immer eine Antwort. Es ist ein bisschen wie in der Kindererziehung: Wenn wer fragt, ist er auch reif für die Antwort. Und dann beantworte ich die Fragen auch sehr gerne, denn Uninformiertheit baut, aus meiner Sicht, die Mauer auf und Informiertheit wieder ab.

Matthias Klaus: Wenn Sie sich jetzt in der Firma mit Ihrer Schwerbehinderung bewegen, dann erleben Sie vielleicht auch mal, dass irgendwas nicht klappt. Vielleicht ist ja mal einfach eine Tür nicht automatisch oder mal eine Stufe da. Oder mal dies oder mal Sie brauchen was für Ihren Arbeitsplatz einen anderen Schreibtisch? Keine Ahnung. Müssen Sie auch mal zu Schwerbehindertenvertretung?

Eileen Lensch: Die Schwerbehindertenvertretung ist bei uns ja die Vertretung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und die kontaktiere ich tatsächlich regelmäßig. Zum einen, wenn es darum geht, Abrechnungsmodalitäten zu verändern, weil es einfach Nachteilsausgleich gibt für Schwerbehinderte, aber das Verwaltungsrecht die Umsetzung des Nachteilsausgleiches nicht vorsieht. Und da bitte ich die Schwerbehindertenvertretung für mich, mit unserer Abrechnungsverwaltung Gespräche zu führen, wie man denn den Nachteilsausgleich bewerkstelligen kann.

Oder ganz aktuell: Wir haben bei uns auf einer sogenannten "Umlaufstraße" tiefe, tiefe Löcher. Da ist es für mich durchaus gefährlich, ich bei Regen, Wind und Wetter und Laub zwischen unseren Häusern zu bewegen. Und auch da - Ich hätte ja gar keine Zeit, mich im Dienst um solche Dinge persönlich zu kümmern - bin ich unserer Schwerbehindertenvertretung sehr, sehr dankbar, dass sie sich dann für mich der Sache auch wirklich annimmt.

Matthias Klaus: Nachteilsausgleich? Was wäre das in Ihrem Fall?

Eileen Lensch: Ach, Nachteilsausgleich für mich bedeutet zum Beispiel: Ich bekomme 5 Tage mehr Erholungsurlaub, sogenannter "Zusatzurlaub", wegen der Schwerbehinderung. Ich habe die Möglichkeit mit einer sogenannten "Verwaltungsassistenz" zu arbeiten, die mich unter bestimmten Umständen auf Reisen begleitet.

Ich habe die Möglichkeit mich tatsächlich auch anders fortzubewegen, auch mit einem Auto, wo andere vielleicht nochmal das Taxi oder die Bahn nehmen. Also es sind unterschiedliche Dinge, tatsächlich, die mit meiner Schwerbehinderung und eben auch dem Status als außergewöhnlich gehbehindert plus Begleitperson einhergehen.

Matthias Klaus: Werden die Menschen dann neidisch, wenn sie das sehen?

Eileen Lensch: Ah, da hab ich schon viele zwistige Gespräche mit meinen Kolleginnen und Kollegen geführt. Wenn die dann so kommen: "Ach Toll! Sie hat Sonderurlaub oder Zusatzurlaub? Ist ja auch ein Geschenk vom Staat für die Schwerbehinderten!" Es sind aber wirklich nur wenige. Aber diejenigen, die das dann sagen, denen muss ich dann auch die Botschaft ganz deutlich zurückübermitteln. Wenn die wüssten, wie viel Zeit ich investieren muss für die Instandhaltung meiner Rollstühle, Instandhaltung meiner Hilfsmittel, besondere Anwendungen et cetera pp...

Also dort, wo Sie vielleicht in der Muckibude sind und Ihre Freizeit genießen oder in anderen Bereichen in Parks auf der Wiese liegen, habe ich mitunter in meiner Freizeit was anderes zu tun. Die fünf Tage: Ich finde sie großartig. Tatsächlich, weil sie mich ein bisschen entlasten. Aber sie sind wirklich kein Urlaub, sondern eigentlich Hilfsmittel-Instandhaltungstage.

Matthias Klaus: Sie sind neu im, sag ich mal, Behindertengeschäft - jetzt seit so knappen sechs Jahren. Es heißt ja inzwischen gerne: "Wir sind nicht behindert, wir werden behindert." Hin und wieder behindern wir uns vielleicht auch selbst? Wie sehen Sie Ihre Rolle als behinderter Mensch? Meinen Sie, es liegt auch manchmal an den Behinderten selbst, dass sie gesellschaftlich nicht akzeptiert sind? Oder ist es immer nur die Umwelt und immer nur die körperlichen Einschränkungen?

Eileen Lensch: Also ich denke, dass vom Grunde her Menschen beeinträchtigt sein können oder nicht. Und dass wir behindert werden, in der Tat, aber mitunter uns auch selbst behindern, da gebe ich Ihnen absolut recht. Aber wenn ich Ihnen mal die Top 5 meiner Barrieren nennen soll in meinem Leben, die mich wirklich Energie, Frust und zum Teil auch Trauer kosten: Der öffentliche Personenverkehr ist unheimlich schwierig für Rollstuhlfahrer zu nutzen, sei es die Verkehrsstationen oder auch die Verkehrsmittel selbst.

Aber was noch viel schlimmer ist, dass ungefähr ein Drittel der dort tätigen Menschen im Personenverkehr, wenn es mal rumpelt, knackt und knüppelt, den Behinderten gegenüber so eine "Täter-Opfer-Umkehr" vornehmen, indem sie dann sagen: "Ja. Sie hätten aber ja das und das machen müssen und das haben Sie nicht!" Und dann komme ich natürlich mit meinem robusten Selbstbewusstsein sage ich: "Ja ich habe einen Vertrag mit Ihnen geschlossen. Für Sie ist das Arbeitszeit. Ich wäre unendlich dankbar, Sie würden jetzt die Rampe ausklappen." Das finde ich sehr frustrierend.

Ich finde Gewerbe- und Innenstädte sehr frustrierend. Ich komme also in kaum gastronomische Betriebe oder Geschäfte hinein. Und Kopfsteinpflaster ist wirklich ein Graus. Medizinische Einrichtungen sind für mich ein Albtraum als Rollifahrer. Die Hälfte aller Arztpraxen in Deutschland haben Stufen oder Treppen, zu enge Türrahmen... Keine Möglichkeit, dass man dort zur Toilette gehen kann. Witzigerweise sogar bei Physiotherapie Praxen, was mich ein um das andere Mal dann doch wundert.

Naja und da kann man schon sehen, was mach ich: Ich würde mich selbst behindern, wenn ich jetzt nicht rausginge und mich nicht damit konfrontierte. Aber ich nehme es jeden Tag wieder auf mich und zu zwei Dritteln der Fälle klappt es ja auch. Und es wird auch langsam, aber sicher in Deutschland besser. 

Matthias Klaus: Ich wollte gerade fragen nach der selbst Behinderung. Also Punkt 6. Ist das dann, dass man sich selber entmutigen lässt oder sich nichts mehr traut oder dass man sagt: "Ich bin ein armer Behinderter"? Was würden Sie da sehen?

Eileen Lensch: Nein, ich finde, es verletzt meine Integrität, meine Seele. Und man hat einen Augenblick das Gefühl wie eine Messerstich-Verletzung. Und je mehr Messerstiche Sie bekommen, desto größer wird die Wunde und Sie müssen auf sich aufpassen, dass Sie nicht verbluten.

Und das ist diese sogenannte Resilienz und die Tatsache, dass man sich immer wieder mit diesen Situationen konfrontiert, um diese innere Stärke aufbauen zu können. Ich verstehe aber wirklich und uneingeschränkt Menschen, die das nicht können, weil ja auch nicht jeder mit dem Naturell, mit dem ich dankenswerterweise zum einen auf die Welt gekommen bin, zum anderen aber auch von meinen Eltern erzogen worden bin, ausgestattet sind. 

Matthias Klaus: Ja, das finde ich jetzt gut von Ihnen zu hören, weil man könnte ja denken: "Ach, das ist hier so eine Führungskraft, die ist richtig was Tolles, wird super bezahlt, die hat gut Reden." Und manch anderer, der eine Behinderung hat, dann denkt: "Ja, mein Alltag ist aber doch irgendwie lästig" oder "Ich schaffe es manchmal nicht." Und das finde ich gut, wenn Sie jetzt sagen, dass Sie das auch alles sehen und auch wenn sie selber vielleicht ein bisschen Glück haben, weil es bei Ihnen alles ganz gut klappt. 

Eileen Lensch: Ja, aber dieses Glück verpflichtet mich wiederum, gegen das Unglück der anderen anzukämpfen. Also Glück zu haben, kann ganz viel Glück bedeuten, ist aber manchmal für mich auch das Unglück, dass ich mich innerlich immer wieder so ein Stückweit getrieben und verantwortlich sehe dafür, mich eben auch für andere Menschen einzusetzen. Manchmal wünschte ich mir, es wäre nicht so, weil Beruf und inklusives Ehrenamt, das ist schon echt eine Menge. 

Matthias Klaus: Frau Lensch mit ihrer Erfahrung, mit allem, was Ihnen bisher widerfahren ist, und auch allem, wo Sie sagen, was so auf eine Art auch eventuell positiv für Sie persönlich gelaufen ist: Was wünschen Sie sich, dass Ihre Behörde noch tut? Gerade im Zusammenhang mit Inklusion und behinderte Menschen in der Arbeit?

Eileen Lensch: Ja, also zunächst einmal: Wir haben uns wirklich gemeinsam alle auf den Weg gemacht. Und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Aber ich kann schon erkennen, dass es ganz toll wäre, wenn unsere Inklusionsbeauftragten mit der Schwerbehindertenvertretung eng zusammenrücken würden und für die Schwerbehinderten gemeinsame Sache machen würden - im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten.

Darüber hinaus halte ich es für wahnsinnig wichtig, dass wir nunmehr, nachdem wir wissen, was geht und was nicht geht, Vorgesetzte und auch die Verwaltung pflichtgemäß schulen. Das heißt: keine freiwilligen Schulungen, da kommen nur wenige! Es geht darum, sie wirklich auch in die Aus- und Fortbildung mit zu integrieren.

Und last but not least: Ich wünschte mir eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit nach innen: "Wirke rechtmäßig sowie sachgerecht und sprich drüber!" Ich glaube, auch wenn andere Menschen sehen und lesen, dass es geht, fühlen sie sich vielleicht ein Stückchen auch animiert, es nachzumachen.

Matthias Klaus: Frau Lensch, ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind von Potsdam in der Bahn mit all Ihren Hürden und dass Sie mit mir hier über Ihre Erfahrung als berufstätige Schwerbehinderte gesprochen haben.

Eileen Lensch: Sehr gerne. Vielen Dank für die Einladung.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter DW dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.