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Fällt die Bastion Team Ineos?

28. August 2020

Lange hieß es bei der Tour de France: 22 Teams fahren durch Frankreich und am Ende gewinnt Ineos. Doch nun hat das Team von Egan Bernal mit Jumbo-Visma ebenbürtige Gegner. Das Duell der Teams verspricht Spektakel.

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Tour de l'Ain 2020
Wer gewinnt das Duell der Top-Teams? Jumbo-Visma fordert die Ineos Grenadiers herausBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Eine Unachtsamkeit kann alles ändern. Eine leicht abfallende Landstraße in den Savoier Alpen. Das Peloton des Critérium du Dauphiné rollt zur Halbzeit der vierten Etappe zügig, aber entspannt bergab. Die Straße ist breit, gut asphaltiert und führt geradeaus. Eigentlich kein sonderlich gefährlicher Moment. Doch wie aus dem Nichts liegt Primoz Roglic am Boden, hält sich den Arm. Der Slowene ist nach einem Fahrfehler hart auf der Straße aufgeschlagen. Er kann die Etappe schließlich unter Schmerzen beenden, tritt am nächsten Tag aber nicht mehr an, sondern gibt das Rennen auf. Die Episode aus dem wichtigsten Vorbereitungsrennen vor der großen Schleife durch Frankreich hat womöglich weitreichende Folgen für das größte Radrennen der Welt. Denn plötzlich steht kurz vor der 107. Tour de France (29. August - 20. September) ein Fragezeichen hinter dem Top-Favoriten.

Lesen Sie mehr: Die Tour 2020 ist eine Fahrt ins Ungewisse

Criterium du Dauphine 2020 | Primoz Roglic, Slowenien
Ein Fahrfehler könnte Primoz Roglic's Gelb-Träume platzen lassen. Erholt er sich von seinem Sturz?Bild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Bis zu jenem Sturz bei der Dauphiné-Rundfahrt schien Roglic nahezu unschlagbar zu sein. In neun Renntagen seit dem Wiederbeginn der durch das Coronavirus unterbrochenen Radsaison feierte Roglic fünf Siege. Wichtiger noch: Er dominierte seine direkten Konkurrenten im Kampf um das Gelbe Trikot. Selbst der kolumbianische Vorjahressieger Egan Bernal hatte mehrfach das Nachsehen, konnte Roglics finalen Attacken am Berg nichts entgegensetzen, auch weil dessen aufstrebende Mannschaft Jumbo-Visma ein infernalisches Tempo anschlug. 

Doch nun zweifelt Roglic, der in seinem ersten Sportlerleben Skispringer war, selbst an seiner Form: "Ich habe ehrlich gesagt gedacht, dass ich mich jetzt schon besser fühlen würde", schrieb der 30-Jährige wenige Tage vor dem Tour-Start auf Instagram. Zu allem Überfluss fällt auch einer seiner wichtigsten Helfer, der Vorjahresdritte Steven Kruijswijk aus den Niederlanden, nach einem Sturz aus. Und dennoch stellt Jumbo-Visma das vielleicht stärkste Team der Tour.

Egan Bernal gibt Favoritenrolle ab

Zum Team gehört auch der Deutsche Tony Martin. "Ich bin der Arbeiter, der Mann fürs Grobe", beschreibt der vierfache Zeitfahr-Weltmeister im DW-Interview seine unauffällige, aber wichtige Rolle im gelb-schwarzen Jumbo-Visma-Ensemble. Und das fordert nun die britischen Platzhirschen von Ineos Grenadiers, wie das Team seit kurzem heißt, heraus.

Egan Bernal, der das letzte Vorbereitungsrennen wegen Rückenproblemen aufgeben musste, hat Respekt. "Jumbo-Visma ist aktuell das stärkste Team", ließ er kürzlich wissen, vielleicht auch, weil er die Favoritenrolle gerne los wäre, um etwas befreiter fahren zu können. Lange war darüber spekuliert worden, dass Ineos mit einer Dreifachspitze nach Gelb greifen werde, doch die früheren Tour-Sieger Chris Froome und Gerraint Thomas wurde aufgrund von Formschwäche aussortiert. Nun sind Giro-Sieger Richard Carapaz aus Ecuador und der talentierte Russe Pawel Siwakow die wichtigsten Adjutanten von Bernal.

Das Duell der beiden Teams verspricht insbesondere in den Bergen, aber eventuell auch auf der Windkante Spektakel. Ex-Profi Jens Voigt, der die Tour als Kommentator für den amerikanischen Sender CBS begleitet, sieht die Wachablösung nahen: "Sie können es schaffen, Ineos als Super-Power abzulösen und sowohl die Mannschafts- als auch die Einzelwertung zu gewinnen", sagte er Sport1 mit Blick auf das Team Jumbo-Visma.

Klassement-Fahrer von Beginn an gefordert

Alle anderen Kandidaten auf das Podium dürften es schwer haben. Das deutsche Kletter-Ass Emanuel Buchmann hat sich mit seiner stillen Art und viel Ehrgeiz nach oben gearbeitet, wurde aber genau wie Roglic von einem schweren Sturz bei der Dauphiné ausgebremst. Das Krankenhaus musste er anschließend im Rollstuhl verlassen, zu groß waren die Schmerzen. Dennoch startet der Kapitän des deutschen Bora-Rennstalls am Samstag in Nizza und will Platz vier aus dem Vorjahr bestätigen. Inwieweit das mit den Sturzverletzungen möglich ist, ist fraglich.

Criterium du Dauphine 2020 | Emanuel Buchmann, Deutschland
Er ist mutiger geworden: Der vierte Gesamtplatz 2019 hat Emanuel Buchmann motiviertBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Denn viel Eingewöhnungszeit bleibt Buchmann nicht. Die Tour beginnt anders als üblich nicht mit einigen Flachetappen, sondern schon an Tag zwei mit einem anspruchsvollen Ritt über die Seealpen bei Nizza. Bereits an Tag vier wartet die erste Bergankunft. Die Favoriten auf den Gesamtsieg werden sich also schon in den ersten Tagen vorne zeigen müssen. Dafür darf man den Mittelteil in den Pyrenäen getrost als entschärft bezeichnen, ehe die dritte und letzte Tourwoche folgt, die es in sich hat. Drei schwere Alpenetappen und ein Einzelzeitfahren mit Bergankunft an der Planche des Belles Filles in den Vogesen werden über Sieg und Niederlage entscheiden.

Lässt Pinot die Franzosen nach 35 Jahren jubeln?

Und dabei wird ein Franzose von einem Heimsieg träumen: Thibaut Pinot stammt aus den Vogesen, lebt dort mit Schafen, Kühen und Eseln auf einem kleinen Hof und kennt jeden Anstieg. Der 30-Jährige gilt als derjenige, der die seit 1985 dauernde Durststrecke der Gastgeber beenden kann. Vor 35 Jahren war Bernard Hinault der letzte Franzose, dem der Gesamtsieg gelang. Im Vorjahr war Pinot teilweise der stärkste Fahrer am Berg, musste dann aber mit Knieproblemen und unter Tränen aufgeben. In diesem Jahr geht der Groupama-FDJ-Profi als einziger Top-Favorit ohne Blessuren ins Rennen - das will schon etwas heißen.

Dahinter bringt sich - neben Vorjahressieger Bernal - eine Reihe weiterer Kolumbianer in Stellung, die dank viel Training in der heimischen Höhe am Berg zu beachten sind: Dauphiné-Sieger Daniel Martinez, der wiedererstarkte Nairo Quintana und der junge Bergfloh Sergio Higuita. Der 21-jährige Slowene Tadej Pogacar sowie der erfahrene Spanier Mikel Landa haben Außenseiterchancen, während der französische Publikumsliebling Julian Alaphilippe sein Kunststück von 14 Tagen in Gelb kaum wiederholen können wird.

Radsport EM 2020 in Plouay, Frankreich
Kampf um Zentimeter: Sprinter, wie Europameister Giacomo Nizzolo (vorne rechts) gehen auf EtappenjagdBild: picture-alliance/dpa/Maxppp/Q. Yves-Marie

Angesichts der eher bergigen Parcours werden es die Sprinter schwerer haben, sich zu präsentieren. Die vielen Höhenmeter sprechen einmal mehr für die Chancen von Peter Sagan auf das Grüne Trikot. Der vielseitige Slowake aus dem deutschen Bora-Hansgrohe-Rennstall peilt dank seiner Ausflüge in diverse Ausreißergruppen das achte Trikot des Punktbesten an - es wäre ein einsamer Rekord in 117 Jahren Tour-Geschichte. Auf den Zielgeraden werden der Australier Caleb Ewan, der Ire Sam Bennett, der frischgebackene Europameister Giacomo Nizzolo aus Italien und vielleicht auch wieder der deutsche Altmeister André Greipel Sagan herausfordern.

Wettrennen gegen das Virus

Das gilt zumindest so lange, wie die Tour tatsächlich rollt. Denn die Gefahr fährt mit. Angesichts steigender Corona-Zahlen in Frankreich und mehrerer positiver bzw. falsch-positiver Corona-Tests im Peloton ist längst nicht ausgemacht, dass der Tour-Tross sein Ziel auf den Pariser Champs-Elysées erreichen wird. Zwei positive Corona-Tests innerhalb einer Mannschaft bedeuten den sofortigen Ausschluss des gesamten Teams. Auch in dieser Hinsicht kann also eine kleine Unachtsamkeit alles verändern.

Ein Blick in die Geschichte der Tour de France: