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Stemann: "Was ist der Wert des Lebens?"

Daria Bryantseva1. Mai 2015

Das Stück "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek attackiert die Asylpolitik wohlhabender europäischer Länder. Nicolas Stemann inszeniert das Werk, das am 1. Mai das Theatertreffen in Berlin eröffnete.

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Nicolas Stemann Regisseur
Bild: Picture-Alliance/Tagesspiegel

Im Januar 2013 besetzten 60 Asylsuchende die Wiener Votivkirche, um die Öffentlichkeit auf ihre Not aufmerksam zu machen. Diese Aktion inspirierte Elfriede Jelinek zu ihrem Stück "Die Schutzbefohlenen", das im September 2014 im Hamburger Thalia Theater mit Schauspielern und Lampedusa-Flüchtlingen aufgeführt wurde. Die Inszenierung von Regisseur Nicolas Stemann wurde für das Theatertreffen Berlin und für die Mülheimer "Stücke" nominiert und eröffnete am 1. Mai das Programm des Berliner Festivals.

Im DW-Interview spricht der Regisseur über die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen, über europäische Asylpolitik und über die Rolle der Kunst bei der Lösung komplexer gesellschaftlichen Problemen.

DW: Reale Menschen bringen außerordentlich viel Authentizität auf die Bühne, was bei aktuellen Themen durchaus vorteilhaft sein kann. Wie war denn die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen, die in Hamburg leben und tatsächlich auf eine Asylentscheidung warten?

Nicolas Stemann: Mir war wichtig, dass ich nicht wieder die Leute ausgrenze, von deren Ausgrenzung erzählt wird. Deswegen holten wir die Menschen auf die Bühne, die auch betroffen sind. Die Botschaft, dass diese Menschen da stehen, zusammen mit uns dieses Stück herstellen und auf einmal total wichtig sind, ist angekommen.

Die überalterten Gesellschaften in Europa sind dringend daran angewiesen, dass diese Menschen hierher kommen. Und das, glaube ich, spürt man bei dieser Inszenierung. Das sind Leute, die uns bereichern können. Das transportiert sich, indem man die Menschen sieht, die auf der Bühne agieren.

Worin besteht die Kunst, politisch aktuelles Theater zu machen, ohne dabei banal zu werden, und wie umgeht man gleichzeitig Vorwürfe, man wolle von der Aktualität profitieren?

Letztendlich ist es natürlich die Aufgabe von Kunst, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Da hat Theater natürlich ziemlich viele Möglichkeiten. Es erreicht ja doch eine recht große Öffentlichkeit. Und es ist auch sehr körperlich, sehr sinnlich. Das Publikum in unserem Stück ist sehr betroffen, ist ratlos und fragt sich: Was können wir denn tun? Und da merkt man schon, dass Theater mehr ausrichten kann, als man oft glaubt. Es fängt ja mit Veränderung der Wahrnehmungen an.

Ich laboriere mein ganzes künstlerisches Leben herum auf der Suche nach einer Form, die künstlerisch autonom genug ist, um tatsächlich tagespolitisch wirksam sein zu können. Theater hat ja die Chance, sehr schnell zu sein, greift aber auch auf große Traditionen zurück. Darin liegt die Kraft des Theaters. Um engagiert sein zu können, muss man als Künstler autonom bleiben. Also in dem Moment, wo man sich nur noch engagiert und die künstlerische Autonomie verliert, ist man im Grunde so etwas wie Kabarett oder wie eine banale Verlängerung der Tagesnachrichten. Und das ist zu wenig.

2006 bekam die russische Operndiva Anna Netrebko die österreichische Staatsbürgerschaft, 2013 auch die Tochter des verstorbenen ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Warum war es wichtig für Jelinek und auch für Sie, das im Stück zu thematisieren?

Jelinek rückt ins Feld, um auf diese strukturelle Ungerechtigkeit hinzuweisen: Auf der einen Seite wird ein unglaubliches Geschrei gemacht, dass Leute hier ohne Papiere leben, und auf der anderen Seite werden den Leuten, die nicht mal Deutsch können, die Staatsbürgerschaften hinterhergeworfen. Es gibt Leute, die werden angeworben, und anderen Menschen verwehrt man den Zugang. Was ist denn der Wert des Lebens und woran bemisst er sich? Diese Frage ist im Kontext dieser Flüchtlingsthematik schon sehr wichtig.

Wie verkrampft ist eigentlich die europäische Gesellschaft? Im Stück wird mehrmals deutlich auf die Diskrepanz zwischen "nicht sagen können" und "real denken" hingewiesen…

Ich finde, bestimmte Aspekte und Diskussionen, die dem Thema "politische Korrektheit" angehören, sind wichtig. Es gibt aber einen Aspekt der politischen Korrektheit, dem ich sehr misstrauisch gegenüber stehe. In den USA zum Beispiel sind die Gefängnisse voll mit Schwarzen, man darf sie aber nicht auf eine herabwürdigende Art und Weise bezeichnen. Ich finde es wichtig, dass man es nicht darf. Ich finde es falsch, dabei stehen zu bleiben. Und das passiert oft, wenn man politisch korrekt sein will: Man poliert die Sprache und die Umgangsformen, aber die rassistische, diskriminierende Basis, auf der man lebt, die verändert sich überhaupt nicht. Und dafür wird kein Bewusstsein geschaffen. Wenn man in der "Europa-Blase" lebt, in der es einem gut geht und wo man Wohlstand hat, benimmt man sich halt höflich. Das ist aber eine große Bigotterie.

Elfriede Jelinek wollte mit ihrem Stück die Probleme der Flüchtlinge ansprechen. Was ist Ihre persönliche Botschaft, wenn es um diese Inszenierung geht?

Es ist doch das Schöne an der Kunst, im Gegensatz zur Politik: Man muss die Realität, die ja sehr komplex ist, nicht auf eine Botschaft reduzieren, die man auf ein Wahlplakat schreiben kann. Es geht in dem Stück um Flüchtlinge. Es geht darum zu beschreiben, mit welcher Verachtung Menschen, die Schreckliches auf sich genommen haben um hierherzukommen und die tatsächlich Schutz bedürfen, hier behandelt werden. Das zu zeigen steht im Vordergrund dieses Stückes. Die Frage richtet sich an uns, an die Zuschauer: Sind wir tatsächlich ausgenommen von diesem verächtlichen Verhalten? Oder sind wir ein Teil des Problems? Diese Frage müssen wir uns stellen, und diese Frage stelle ich dem Zuschauer. Aber das kann man nicht auf eine Botschaft reduzieren, so in dem Sinne: Jetzt seid bitte alle nett zueinander, nimmt Flüchtlinge bei euch auf oder so. Es geht darum, für diese Problematik Bewusstsein zu schaffen.

Das Gespräch führte Daria Bryantseva.