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Politik

Die Menschenrechte - wirklich universal?

Frank Sieren
20. Dezember 2018

Auch 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erscheint uns nichts davon verhandelbar. Dennoch urteilen aufsteigende Länder wie China nach ihren eigenen Erfolgen und Irrwegen, meint Frank Sieren.

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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Bild: picture-alliance/dpa/B. Marks

Nicht nur die chinesische Regierung, auch die Menschen in China haben unterschiedliche Vorstellungen als wir im Westen, wenn es zum Beispiel um das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft geht oder um das Verhältnis demokratischer Mitbestimmung und autoritärer Ordnung. Das hat mit den jeweiligen historischen Erfahrungen zu tun.

Es ist aber natürlich auch ein Unterschied, ob gut 80 Millionen Menschen miteinander auskommen müssen oder 1,4 Milliarden. Und das Entwicklungsstadium ist ebenfalls prägend: China ist zwar die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, erwirtschaftet aber pro Kopf nur ein Sozialprodukt vergleichbar den Bulgaren - deren Land eines der ärmeren in Europa ist.

Prägende Vorstellungen des Westens

Jedes Land urteilt in Fragen der Menschenrechte "an Hand seiner Erfolge, aber auch anhand seiner Irrwege", betonte dann auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner jüngsten Chinareise Anfang Dezember. Unsere Erfahrungen in Europa seien stark geprägt von den Leiden zweier Weltkriege. Auf diesem Fundament seien auch die Charta der Menschenrechte und andere internationale Vereinbarungen entstanden - "all das war nie perfekt", betonte Steinmeier, "nie für alle gleichermaßen da, nie ein Allheilmittel". Aber für ihn ist es dennoch eine "unendlich wertvolle Errungenschaft", die er "weder schwächen, noch aufgeben" möchte.

Frank Sieren *PROVISORISCH*
DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Zweifellos prägten vor allem westlich geformte Vorstellungen von Menschenrechten die Charta der Vereinten Nationen. Zu ihren geistigen Vätern zählen ein Kanadier, gleich zwei Franzosen, eine Amerikanerin, ein Libanese und mit P.C. Chang immerhin auch ein chinesischer Diplomat und Philosoph. Er war allerdings in einer sehr schwachen Position, weil China zu dieser Zeit international praktisch keine politische Rolle spielte. Kein Russe saß zudem am Tisch, kein Inder, kein Iraner, kein Afrikaner und kein Südamerikaner.

Siebzig Jahre später zeichnet sich nun ab: Der Anspruch des Westens, Werte entwickelt zu haben, die so überzeugend sind, dass die Welt ihnen bedenkenlos folgt, lässt sich so einfach nicht halten. Steinmeiers wichtigste Rede in China war dann auch geprägt von einem großen Dilemma: Wie integriert man die westlichen Errungenschaften mit den Vorstellungen der neuen aufsteigenden Länder - allen voran China, ohne zu viel der eigenen Werte aufgeben zu müssen? Eine Antwort lautet: Wir müssen überzeugend sein und dürfen schon gar nicht mit zweierlei Maß messen. Die unterschiedlichen Blickwinkel allein von China und Europa sind komplex und "der Umgang mit dieser Komplexität, dieser Spannung verlangt von beiden Seiten besondere Sorgfalt", stellte Steinmeier fest.

Das bedeutet: Wir müssen mehr und noch intensiver als bisher miteinander reden. Wir müssen den Chinesen genauer erklären, warum wir so denken, wie wir denken und herausfinden, warum viele Chinesen vieles anders sehen.

Kluger Dialog im Perspektivwechsel

Deshalb behauptet Steinmeier nicht etwa, dass zum Beispiel die europäischen oder gar die deutschen Vorstellungen von einer Ethik der Digitalisierung das Maß aller Dinge sind, sondern er spricht bewusst von "unserer Richtung" und er räumt ein, dass "diese Fragen heute in China vielfach ganz anders beantwortet werden". Einzuräumen, dass man unterschiedliche Blickwinkel gelten lässt, ist der erste Schritt, sich aufeinander zuzubewegen, die Voraussetzung für einen Kompromiss. Denn es bedeutet schlicht, dass man die Position des anderen achtet. Es ist allerdings nicht einfach, das rechte Maß zu finden zwischen Nachgeben und dem Bestehen auf eigenen Überzeugungen - zumal wir im Westen es gewohnt sind, als eine Minderheit der Welt nunmehr einige 100 Jahre lang die Spielregeln der Welt bestimmt zu haben.

Aber immerhin sieht es derzeit so aus, als ob wir Europäer den klugen Dialog im Perspektivwechsel unter dem Druck der dramatischen globalen Veränderungen ein wenig besser beherrschen als die meisten Amerikaner, allen voran der amerikanische Präsident. Auch das hat gute historische Gründe: Wir haben gezwungenermaßen mehr Übung darin. Dass Franzosen und Deutsche sich für "Erbfeinde" hielten ist gerade einmal 70 Jahre her und dennoch sind wir inzwischen enge Freunde und Partner. Diese historische Erfahrung hat Steinmeier in China offensichtlich geholfen, den richtigen Ton zu finden. 

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.