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Seltene Erkrankungen sind gar nicht so selten

Gudrun Heise
25. Februar 2021

Mehr als 300 Millionen Menschen weltweit haben eine Seltene Erkrankung, sie gelten als "Waisen der Medizin“. Krankheitsbilder und Ursachen gibt es tausende, treffen kann es jeden von uns.

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Stephen Hawking
Bild: AP

Stephen Hawking, britischer Physiker und Astrophysiker, ist wohl der bekannteste ALS-Patient. ALS, die Amyotrophe Lateralsklerose, gehört zu den Seltenen Krankheiten. Es ist eine unheilbare, degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Sie führt unter anderem zu spastischen Lähmungen, zu Muskelschwund und schließlich auch zur Lähmung der Atemmuskulatur. 

Die häufigste Todesursache bei der Erkrankung ist eine Lungenentzündung. Aber ALS ist nur eine von vielen neurologischen Erkrankungen, die zur Liste der Seltenen Erkrankungen gehören. Die meisten davon sind relativ unbekannt.

Das sollte die Spendenkampagne "ALS Ice Bucket Challenge" ändern. In der ganzen Welt gossen sich Berühmtheiten eiskaltes Wasser über Kopf und Körper, um auf ALS aufmerksam zu machen. Ihren Höhepunkt erreichte die Aktion 2014.

Pete Frates Ice Bucket Challenge
Die Ice Bucket Challenge erreichte 2014 ihren HöhepunktBild: picture alliance/AP Photo

Die Spendengelder waren für die Erforschung und Bekämpfung der Nervenkrankheit ALS gedacht. Sie erregte weltweit erheblich größere Aufmerksamkeit als die Kampagnen verschiedener Organisationen, die es jedes Jahr zum Tag der Seltenen Erkrankungen gibt. Er findet jeweils am letzten Tag im Februar statt. 

Häufiger als gedacht

Als Seltene Erkrankung gilt, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Das sind insgesamt aber weit mehr, als man vermuten könnte. Rund fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden unter einer der weit mehr als 6000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen.

Für jeden einzelnen Betroffenen ist es ein nervenaufreibender Spießrutenlauf durch verschiedene Arztpraxen und Kliniken auf der Suche nach einer Diagnose. Im Durchschnitt dauert es bis zu sechs Jahren, bis eine Ärztin oder ein Arzt eine Diagnose stellen kann, wenn überhaupt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es auch eine entsprechende Therapie gibt.

Der Krankheit einen Namen geben

Scheinen die gängigen Möglichkeiten erschöpft, werden die Beschwerden oft als psychosomatisch eingestuft. Eine solche Diagnose ist für die Patienten äußerst frustrierend. Hat eine Krankheit einen Namen, ist es für die Patienten meist einfacher, damit umzugehen. Dennoch gibt es zurzeit für nur etwa zehn Prozent der seltenen Erkrankungen überhaupt Möglichkeiten zur Therapie.

Tag der Seltenen Erkrankungen
Bild: Achse e.V.

Hinzu kommt, dass Mediziner und Forscher immer wieder neue Erkrankungen entdecken, deren Symptome sie keiner bekannten Krankheit zuordnen können. Viele der oft degenerativen Erkrankungen werden im Laufe der Zeit chronisch, einige führen letztendlich zum Tod.

Unter dem Motto "Den Seltenen eine Stimme geben" engagiert sich die in Berlin ansässige Organisation "ACHSE e.V."  für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Die "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen in Deutschland" will sie stärker ins Licht der Öffentlichkeit rücken, aber auch ins Bewusstsein der Ärzte. Menschen sollen so aus der Isolation geholt werden, in der sie sich oft befinden, weil es ihre Krankheit oft eben - noch - gar nicht gibt.

Neuronen bei Parkinson-Krankheit
Seltene Erkrankungen gehören oft zur Neurologie Bild: Imago Images/Science Photo Library

Als übergeordnetes Netzwerk will ACHSE die Anliegen von Menschen mit seltenen Erkrankungen auch auf europäischer Ebene etwa gegenüber der Politik vertreten. Über 120 Selbsthilfeorganisationen sind in dem Verein zusammengeschlossen, in denen sich Betroffene und deren Angehörige Gehör verschaffen können.

Ansprechpartner gesucht

Durch das Internet gibt es heute zahlreiche Webseiten, auf denen Betroffene, aber auch Ärzte Hilfe finden können. "Orphanet" beispielsweise verfügt über eine Symptomdatenbank. Sie trägt u.a. dazu bei, verschiedenen, unbekannten Symptomen auf die Spur zu kommen. Orphanet beschreibt sich selbst als "eine einzigartige Ressource, die das Ziel verfolgt, das Wissen um seltene Krankheiten zu sammeln und zu erweitern, um so die Diagnose, Versorgung und Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern." Seit 1997 gibt es die ursprünglich aus Frankreich stammende Organisation. Mittlerweile besteht sie aus einem Konsortium von europa- und weltweit 40 Partnerländern.

Diagnostik Seltener Krankheiten Uni-Klinik Tübingen
Diagnostik an der Uni-Klinik Tübingen Bild: Universitätsklinik Tübingen

Hilfe bietet auch der sogenannte "se-atlas", der Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, den es seit 2015 gibt.

Aus Anlass des diesjährigen Welttages hat die Plattform eine gründliche Renovierung durchgemacht. Die Webseite wurde komplett überarbeitet, denn immer häufiger greifen die Nutzer über ihr Mobiltelefon auf den se-atlas zu. Das Angebot ist kostenlos und hilft etwa dabei, geeignete Versorgungseinrichtungen zu finden. Dazu bietet die Plattform einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten zur Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland und eine interaktive Kartenansicht.

Seltene Erkrankungen erforschen

Spezielle Abteilungen zur Erforschung seltener Krankheiten sind noch immer relativ selten. In Deutschland gibt es sie in Tübingen und Berlin, in Hamburg, Bonn und Lübeck. Viele dieser Zentren gehen auf die Initiative von Neurologinnen und Neurologen zurück, denn viele der seltenen Erkrankungen sind im Bereich der Neurologie angesiedelt. Das Nervensystem ist an etwa 80 % aller seltenen Erkrankungen beteiligt.

Oberstes Ziel der verschiedenen, weltweit laufenden Forschungen ist es, gemeinsame Register und Projekte ins Leben zu rufen sowie Therapien und Leitlinien zu entwickeln, um so auch kleinsten Patienten möglichst helfen zu können. Etwa 70 % der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt und beginnen schon in der Kindheit. Das erschwert die Diagnose oft zusätzlich.

Die Eltern wissen meist zwar, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmt, aber die Patienten sind oft einfach noch zu jung, um ihre Beschwerden oder auch Schmerzen beschreiben und so eine Diagnose wenigstens ein bisschen beschleunigen zu können.

Junge mit NCL im Rollstuhl
NCL - Neuronale Ceroid Lipofuszinose - ist auch als Kinderdemenz bekanntBild: Beyond Batten Disease Foundation

Mehr als 200 Länder nehmen an den Kampagnen zum Tag der Seltenen Erkrankungen, dem "Rare Disease Day", in diesem Jahr teil. Aber viele der geplanten Veranstaltungen und Aktionen fallen 2021 Corona zum Opfer. So wird es in diesem Jahr noch stiller um die Menschen mit seltenen Erkrankungen.