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Selbstmordattentäter aus der Nachbarschaft

Marcus Bösch15. Juli 2005

Sie waren britische Staatsbürger, lebten angepasst und unauffällig. Bis sie zu lebenden Bomben wurden. Die Attentäter von London opferten ihr Leben für den Heiligen Krieg. Verhindern kann man solche Anschläge nicht.

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Hasib Hussain aus Leeds mochte Cricket und FußballBild: AP

"Wir wissen, wer die vier waren, die die Bomben mit sich führten." Die Erkenntnisse von Polizeichef Ian Blair vom Donnerstag (14.7.2005) haben in Großbritannien zu einem Schock nach dem Schock geführt. Mindestens drei der vier Hauptverdächtigen, die die ersten Selbstmordanschläge auf europäischem Boden verübt haben, waren Briten pakistanischer Abstammung.

Neues Täterprofil?

Terroranschlag in London Attentäter Hasib Hussain mit Rucksack
Hasib Hussain - gefilmt von einer Überwachungskamera in der Londoner U-BahnBild: AP

Keine finster dreinblickenden Fanatiker im Kaftan waren auf den Bildern der Überwachungskameras aus London zu sehen. Sondern normale Jungs von nebenan, die studierten, Cricket liebten, Familie und Freunde hatten und in die Gesellschaft integriert waren. "Cleanskins", unbeschriebene Blätter, die nicht als potenzielle Moslem-Extremisten in den Karteien der Geheimdienste vermerkt waren. Ein neues Täterprofil, wie eilig herbeigerufene Sicherheitsexperten beteuern?

Nein. Denn nur wenige der europäischen Dschihadisten entsprechen dem Klischee, das man sich gemeinhin macht. "Sie sind nicht verrückt, teilnahmslos und asozial", erklärt Scott Atran vom französischen Forschungszentrum CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Die jungen Männer zwischen 19 und 30 handelten vielmehr - ganz in der Tradition der Guerilla-Devise Maos - wie "Fische im Wasser". Unbemerkt und nicht von ihrer Umgebung zu unterscheiden, konnten sie ihren Terrorakt verüben.

Krieg gegen die Aggressoren

Muslime in London Moschee
Freitagsgebet in einer Londoner MoscheeBild: AP

Wie aus nach außen vollkommen normalen jungen Männern lebende Bomben wurden, bleibt schwer nachvollziehbar. Der 30-jährige Mohammad Sidique Khan war ein beliebter Hilfslehrer, dessen Frau gerade zum zweiten Mal schwanger war. Wieso widersetzte sich Khan einer Grundregel der menschlichen Existenz, als er sich mit einigen Kilo Sprengstoff in seinem Rucksack in die Luft jagte? Experten sehen zwei zentrale Motive, die aus gesellschaftlich integrierten Anhängern des Islam Terroristen machen.

"In vielen Fällen, die wir studiert haben, handelte es sich bei den Tätern um frustrierte Leute, die in Europa aufgrund ihrer Herkunft mit Rassismus konfrontiert worden waren", erklärt der Dschihad-Experte Petter Netter im Gespräch mit der Schweizer Zeitung Weltwoche. Allerdings sei individuelle Frustration nicht das Hauptmotiv der Täter, die einen Krieg gegen Aggressoren führten, die den Islam und Muslime angriffen.

Geschulte Fußsoldaten

USA fahnden nach sieben El-Kaida-Verdächtigen
Sieben El Kaida Verdächtige - "Gefühl der Verzweifelung"Bild: AP

Was Selbstmordattentäter Fachleuten zufolge vor allem gemein haben, ist ein Gefühl von Ungerechtigkeit oder Erniedrigung. Ein Gefühl der Verzweifelung, die sich nur auflösen lässt, indem sie sich selbst opfern. Moslems, die nicht in Krisengebieten leben, haben offenbar den Eindruck, der Islam und seine Anhänger befänden sich in feindlichem Umfeld. Das macht sie anfällig für die Werbungsversuche von Terrororganisatoren.

Konsens herrscht darüber, dass die Attentäter von London nur eine Art "Fußsoldaten" waren. Bereit ihr Leben im Dienste des Heiligen Krieges als Märtyrer zu opfern. Rekrutiert wurden sie - nach gegenwärtigem Ermittlungsstand - von Drahtziehern der El Kaida. Zumindest zwei der Terroristen sollen in pakistanischen Trainingslagern auf den Terrorakt vorbereitet worden sein. Für eine gründliche Vorbereitung spricht unter anderm die fast gleichzeitige Durchführung der Anschläge, dezentral an mehreren Orten. Eine Strategie, die Terroristen auch erfolgreich im Irak anwenden.

Sprengstoff aus der Drogerie

Nach dem Terroranschlag von London - das Wrack der U-Bahn
Auswirkungen des Sprengstoffs AcetonperoxidBild: dpa

Nach BBC-Informationen benutzen Hasib Hussain, Shehzad Tanweer Kaki, Mohammed Sidique Khan und Lindesy Germail selbst gebastelte Bomben, wie sie bei anderen El Kaida-Anschlägen benutzt worden waren. Die Bestandteile des Sprengstoffs Acetonperoxid sind nach Angaben des Senders in Drogerien frei käuflich.

Sowohl die Herkunft der mutmaßlichen Attentäter, als auch die verhältnismäßig einfache Durchführbarkeit des Anschlags geben Sicherheitsexperten zu denken. Verhindern kann man Terrorakte wie diesen nicht. Nicht durch die Verschärfung der Einreisebestimmungen. Nicht durch die Speicherung biometrischer Daten. Und nicht durch die Installation von Überwachungskameras.