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Politik

Schwere Vorwürfe von Amnesty International

11. Juli 2017

Nach der Vertreibung des IS aus Mossul hat Amnesty International schwere Vorwürfe erhoben: Nicht nur der IS, auch die Anti-IS-Koalition hätten Kriegsverbrechen begangen. Ein Gespräch mit Razaw Salihy von Amnesty.

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Irak | Gefecht in Mossul
Bild: REUTERS/A. Al-Marjani

Deutsche Welle: Dass der sogenannte Islamische Staat (IS) in brutaler und Menschen verachtender Weise bei der Schlacht um Mossul internationale Normen und Menschenrechte verletzte, ist nicht wirklich überraschend. Aber:Der neue Bericht von Amnesty International (AI) hebt auch hervor, die irakische Regierung sowie die US-geführte Koalition hätten - so wörtlich - "wiederholt Verletzungen internationalen humanitären Rechts begangen, von denen einige als Kriegsverbrechen einzustufen seien". Was sind denn Ihre schwerwiegendsten Vorwürfe?

Razaw Salihy: Das irakische Militär und die US-geführte Koalition haben ungenaue und explosive Waffen im Umfeld von Zivilisten eingesetzt. Unseren Untersuchungsergebnissen zufolge haben die irakischen Truppen - und die Koalitionstruppen - auf inhärent wahllos tötende Waffen gesetzt. Sie haben es versäumt, ihre Taktik an die Gefahren anzupassen, denen der sogenannte Islamische Staat die Zivilbevölkerung bewusst ausgesetzt hat. Der IS hat Zivilisten gezielt in Kampfgebiete verlegt und in ihren Häusern gefangen gehalten, um sie als lebende Schutzschilde zu missbrauchen. Er hat hunderte, wenn nicht tausende, Zivilisten getötet, die fliehen wollten.

Razaw Salihy
Razaw Salihy hat am AI-Bericht zu Mossul mitgearbeitetBild: privat

Sehen Sie eine Chance, die Täter zur Verantwortung zu ziehen?

Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. In einem ersten Schritt müssen die irakische Regierung und die Koalition den massiven Verlust von Menschenleben bei der Rückeroberung West-Mossuls vom IS eingestehen. Amnesty International fordert die irakischen Behörden auf, eine unabhängige und unparteiische Kommission ins Leben zu rufen: Die soll alle glaubhaften Beweise untersuchen, dass Regierung und Koalition internationales  Recht gebrochen haben. Und sie soll ihre Ergebnisse publik machen.

Was bedeutet es für die Zukunft von Mossul, dass die Zivilbevölkerung sich jetzt auf den Schutz durch genau jene Kräfte verlassen muss, denen der Amnesty-Bericht schwere Rechtsverletzungen und sogar Kriegsverbrechen vorwirft?

Mehr als 600.000 Menschen sind aus West-Mossul vertrieben worden. Die Stadt wurde in weiten Teilen zerstört. Das konnten wir im Mai 2017 persönlich sehen. Viele der Familien in den Flüchtlingscamps empfinden Angst und Sorge und haben wenig Hoffnung auf Sicherheit und Stabilität in Mossul. Wenn die irakischen Behörden und die Mitglieder der Koalition die Absicht signalisieren wollen, die in Mossul verbliebenen oder nach Mossul zurückkehrenden Zivilisten zu schützen und für ihre Sicherheit zu garantieren, müssen die irakischen Behörden und die Mitglieder der Koalition in einem ersten Schritt den Tod, die Verletzungen und das Leid der Zivilbevölkerung beim Kampf um Mossul anerkennen. Dazu gehört auch, Opfern und ihren Familien schnelle und umfassende Entschädigungen zu leisten. Die irakischen Behörden müssen den Menschen in Mossul die Garantie geben, dass dies nicht einfach der Beginn eines neuen Zyklus' von Gewalt ist.

Irak - Flucht aus Mossul
Zwischen den Fronten: Mossuls Zivilbevölkerung hatte unter beiden Kriegsparteien zu leiden. Bild: picture-alliance/dpa/A. DiCenzo

Ist denn überhaupt bekannt, wie viele Zivilisten während der neun Monate der Operation getötet wurden?

Das ganze Ausmaß wird möglicherweise nie bekannt werden. Die unabhängige Monitoring Gruppe Airwars zählte allein zwischen dem 19. Februar und dem 19. Juni mindestens 3706 tote Zivilisten auf Grund von Angriffen der irakischen Armee und der Koalitionskräfte. Amnesty selbst hat im März und im Mai dieses Jahres 45 Angriffe dokumentiert, bei denen mindestens 426 Zivilisten getötet wurden - in Folge des Beschusses durch die irakischen Kräfte und durch Luftangriffe der Koalition. Ein aus Mossul vertriebener Mann erzählte uns, wenn die irakische Armee vorrückte, kamen mit ihnen Mörser und Raketen. Ganze Familien wurden bei diesen Operationen getötet. Unter dem Schutt liegen noch heute viele Leichen.

Irak Al Nuri Moschee in Mossul Zerstörung
West-Mossul liegt in Trümmern. Amnesty fordert eine unabhängige UntersuchungBild: picture-alliance/AP Photo/F. Dana

Sehen Sie in Bezug auf die humanitäre Situation einen Unterschied zwischen der Rückeroberung von Aleppo durch Syriens Assad-Regime und der Vertreibung des IS aus Mosul?

Beide Militäroperationen haben massives Leid über die Zivilbevölkerung zwischen den Fronten gebracht. In Mossul wurden Hunderttausende vertrieben und leben jetzt unter schwersten Bedingungen in Lagern. Die Mitglieder der Koalition müssen dringend die Finanzmittel für die humanitäre Hilfe in und um Mossul aufstocken.

 

Razaw Salihy ist Irak-Expertin bei Amnesty International. Sie war maßgeblich an dem Bericht beteiligt: "At Any Cost - The Civilian Catastrophe in Mosul, Iraq", den AI am 11. Juli veröffentlicht hat.

Die Fragen stellte Matthias von Hein. 

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein